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Politik

Deutschland weist politisch verfolgte Russen ab

Alexandra Ivanova
2. September 2022

Russischen Kriegsgegnern könne Schutz gewährt werden, hieß es im Mai vom deutschen Innenministerium. Doch wie viele Russen wurden bisher aufgenommen? Und warum werden die Anträge anderer Schutzsuchender abgelehnt?

Symbolfoto Visum
Bild: imago images/blickwinkel

Russen, die in ihrer Heimat politisch verfolgt werden, können "aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen" eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen. Das regelt Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes. Und davon werde auch "mittels schneller und unbürokratischer Verfahren Gebrauch gemacht", erklärt das Bundesinnenministerium.

Zu diesem Kreis zählten Menschenrechtsanwälte oder Personen, die in Russland für Organisationen tätig waren, die als unerwünscht oder als ausländische Agenten eingestuft werden, heißt es auf DW-Anfrage weiter. Auch Vertreter der demokratischen Opposition gehörten dazu, sowie Personen, die sich öffentlich gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine positioniert haben. Und nicht zuletzt auch Journalisten von unabhängigen Medien, die Repressalien und Gefährdungen in Russland ausgesetzt sind.

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wurden seit Mitte Mai insgesamt 241 russische Staatsbürger in Deutschland aufgenommen. Darunter sind 144 bedrohte Oppositionelle und 97 Familienmitglieder.

Verfolgung von Nawalny-Mitarbeitern

Eine von ihnen ist die Ex-Koordinatorin des Teams von Alexej Nawalny in Rostow am Don, Ksenia Seredkina. Seit 2017 ist sie immer wieder zu Geldstrafen verurteilt worden. Nach der Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Nawalnys "Stiftung für Korruptionsbekämpfung" (FBK), es ging um den Vorwurf der Veruntreuung von Spenden, wurde 2019 ihre Wohnung durchsucht. 2021 wurde sie zweimal verhaftet, weil sie zu Kundgebungen für den nach Russland zurückgekehrten Oppositionellen  aufgerufen hatte.

Im Dezember 2021 beschloss Seredkina, ihr Heimatland zu verlassen. Damals rollte landesweit eine weitere Welle von Durchsuchungen bei ehemaligen Nawalny-Mitarbeitern an. "Ich wollte bleiben, aber ich bin nicht nur für mich selbst verantwortlich, sondern auch für mein Kind", sagte die Mutter einer 13-jährigen Tochter der DW.

Proteste in Georgien gegen den Krieg in der Ukraine Bild: Aleksander Burakov/DW

Am 28. Dezember fuhren sie, ihr Mann und ihre Tochter erst nach Armenien und von dort nach Georgien, wo sie ein deutsches humanitäres Visum beantragten. Als Russlands Krieg gegen die Ukraine begann, hatten sie keine Zweifel mehr, dass ihre Entscheidung richtig war.

Keine Ausreise nach Deutschland über Georgien

Aber nicht alle politischen Aktivisten aus Russland, die aus humanitären Gründen eine Einreiseerlaubnis nach Deutschland beantragt haben, bekommen sie auch.

Wadim Kobsew gehörte ebenfalls zum Nawalny-Team in Rostow am Don. Er organisierte öffentliche Veranstaltungen und war an Recherchen über den Amtsmissbrauch lokaler Beamter beteiligt. Viermal wurde er für insgesamt 34 Tage in Haft genommen. Kobsew saß in beengten, überfüllten Zellen mit schlechten hygienischen Bedingungen, ohne Bettwäsche und ohne sauberes Trinkwasser.

2019 durchsuchten Angehörige der Sondereinheit OMON das Haus seiner Großmutter, bei der er damals lebte. Beschlagnahmt wurde technisches Gerät im Wert von umgerechnet 1600 Euro, obwohl Kobsew nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge im Spenden-Verfahren gegen Nawalnys Stiftung galt. Drei Bankkonten des Aktivisten wurden gesperrt.

Der Aktivist Wadim Kobsew (r.) mit Alexej Nawalny (Archivfoto)Bild: Privat

Im Sommer 2021 wurden Kobsew und seine Frau von Ermittlern vorgeladen und verhört. Ihnen wurde vorgeworfen, sich an extremistischen Aktivitäten zu beteiligen, mit dem Ziel, die verfassungsmäßige Ordnung Russlands zu untergraben. "Mir war klar, dass ich der Nächste bin, der ins Gefängnis kommt", erinnerte sich Kobsew im Gespräch mit der DW.

Im April verließen sie Russland und beantragten ein humanitäres Visum für Deutschland. Doch er bekam eine Ablehnung, mit der Begründung, er habe die Schwere der politischen Verfolgung nicht nachweisen können. Außerdem befinde er sich in einem "relativ sicheren Land". Auch ein Brief von "Memorial" half nicht, in dem die Menschenrechtsorganisation bestätigte, dass es für Kobsew gefährlich sei, sich in Russland aufzuhalten.

"Man wollte mich in den Krieg schicken"

Alexander Surinow, ehemaliger Koordinator im Nawalny-Team von Murmansk, erging es ähnlich. Anfang 2021 organisierte er Kundgebungen zur Unterstützung von Alexej Nawalny, der nach einer Behandlung wegen einer Nowitschok-Vergiftung aus Deutschland gerade nach Russland zurückgekehrt war. Die russischen Behörden forderten gegen Surinow eine Strafe in Höhe von umgerechnet fast 12.000 Euro.

Nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine wurde in Murmansk gegen ihn ein Verfahren wegen angeblich illegalen Erlangens eines Militärausweises erhoben. Surinow, der medizinisch nachweislich wehruntauglich ist, sagte der DW: "Es war klar, dass man mich so wegen meiner politischen Aktivitäten in diesen Krieg schicken wollte."

Aktivist Alexander Surinow - Unterstützung für Alexej NawalnyBild: Privat

Wie Wadim Kobsew war Alexander Surinow 2019 Zeuge im Spenden-Verfahren gegen die FBK. Auch seine Bankkonten wurden gesperrt. "Ich war zu dem Zeitpunkt das einzige in Russland noch verbliebene Mitglied von Nawalnys Team in Murmansk und mir drohte wegen der Zusammenarbeit mit der FBK ein Strafverfahren wegen Extremismus", sagte er.

Im April 2022 reiste Surinow über Belarus nach Georgien, wo er ein deutsches humanitäres Visum beantragte. Wie im Fall von Wadim Kobsew sahen die deutschen Behörden die von ihm vorgelegten Dokumente - Bestätigungen von Durchsuchungen und Anklagen - als unzureichend an. Ein weiterer Grund für die Ablehnung war, dass er sich in Georgien befinde - "einem relativ sicheren Land".

Wie sicher ist Georgien für Russen?

Alexander Surinow meint, Georgien sei heute kein sicheres Land für Russen, die ihre Heimat wegen politischer Verfolgung verlassen hätten. "Wir sitzen auf einem Pulverfass. Hier wird jetzt über eine Visumpflicht für Russen diskutiert", sagt Surinow und fügt hinzu, er kenne Fälle, wo Russen nach Ablauf der visumfreien Aufenthaltsdauer Georgien für einen Tag verlassen hätten und nicht mehr ins Land gelassen worden seien.

Ein weiteres Risiko sei das bevorstehende Referendum in Südossetien über einen Beitritt zu Russland. "Im Mai wurde es auf unbestimmte Zeit verschoben. Man will sich gar nicht vorstellen, wie Georgien Russen behandeln wird, wenn dieses Referendum stattfindet und Südossetien zum Teil der Russischen Föderation erklärt wird", so Surinow.

"Eine politische Entscheidung"

Wiebke Judith leitet das Team Recht und Advocacy bei Pro Asyl. Die Organisation unterstützt Asylsuchende, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen. Zum Paragrafen 22 verweist sie auf den Wortlaut, wonach eine Aufenthaltserlaubnis zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werde. Es sei "einfach eine politische Entscheidung", betonte sie im DW-Gespräch.

Aus Erfahrung mit afghanischen Aktivisten, für deren Evakuierung nach Deutschland seit der Machtergreifung der Taliban auf diese Regelung zurückgegriffen wird, stellt Judith fest, dass die Anträge sehr ausführlich begründet werden müssten.

Bevor die Taliban an die Macht gekommen seien, hätten nur bestimmte bekannte Dissidenten aus Afghanistan nach Deutschland einreisen dürfen, sagte sie. Jetzt komme Paragraf 22 häufiger zum Einsatz. Doch es sei unwahrscheinlich, dass dieser Weg einer großen Zahl russischer Bürger offenstehen werde, glaubt Judith, selbst wenn sie in ihrer Heimat zivilgesellschaftliches Engagement gezeigt hätten.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Finnland erwägt Einreiseverbot für Russen

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