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Politik

Schwere Vorwürfe wegen Pushbacks in Melilla

25. Juli 2022

Die Zahl der Toten an Europas Außengrenzen steigt: Allein am 24. Juni kamen mindestens 27 Migranten am Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla ums Leben. Augenzeugen werfen Spanien gegenüber der DW Rechtsbruch vor.

Reportage Grenzzaun Melilla
Der Sudanese Atroon macht den Sicherheitskräften schwere VorwürfeBild: Ruben Garcia/DW

Seit einigen Wochen schläft Atroon in einer verlassenen Schule in Casablanca. Marokkanische Sicherheitskräfte haben den jungen Sudanesen hier ausgesetzt - möglichst weit entfernt von der Landgrenze zwischen Marokko und Europa. Atroon war mit dabei, als mehrere Hundert afrikanische Migranten vor einem Monat den Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla stürmen wollten. Schon zehnmal hat der Sudanese versucht, nach Europa zu gelangen, um dort Asyl zu beantragen. Nie hätte er gedacht, dass er dabei einmal Zeuge einer Katastrophe wie am 24. Juni werden würde. "Sie haben einfach auf uns eingeschlagen und gesagt, dass das die letzte Warnung sei", erinnert sich Atroon an das Vorgehen der marokkanischen Grenzschützer. "Die prügeln sogar weiter auf dich ein, wenn du schon am Boden liegst. Sie hören erst auf, wenn du bewusstlos bist oder dich nicht mehr bewegen kannst."

Schwere Vorwürfe gegen die spanische Polizei

Die Aufnahmen von Augenzeugen bestätigen die Aussagen von Atroon. Allerdings zeigen sie auch, dass viele der Migranten sich mit Stöcken und Steinen bewaffnet hatten, um die Grenze zu stürmen. Am Ende waren mindestens 27 junge Afrikaner tot und Dutzende Polizisten verletzt. Besonders schwere Vorwürfe macht Atroon den spanischen Sicherheitskräften. Er sei bereits auf EU-Territorium gewesen, um dort Flüchtlingsschutz zu beantragen. Doch die Beamten hätten das ignoriert und ihn wieder gewaltsam abgeschoben. "Sie schicken einen einfach zurück nach Marokko. Manchmal erlauben sie sogar marokkanischen Polizisten, dich zu holen", so der Sudanese. "Die meisten denken, sie haben es geschafft, wenn sie einmal hinter der Grenze sind. Aber oft schieben sie dich einfach wieder ab."

Augenzeugen-Aufnahmen zeigen Dutzende verletzte MigrantenBild: AMDH

Die Vorwürfe sind brisant, weil sie Spanien beschuldigen, gegen internationales Recht zu verstoßen. Ein Großteil der Migranten kam aus dem Sudan und dem Tschad - beides Länder, die von gewaltsamen Konflikten und massiven Menschenrechtsverletzungen betroffen sind und deren Einwohner gute Aussichten auf Asyl in Europa haben. Zwar hat der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil 2020 sogenannte Pushbacks am Grenzzaun in Einzelfällen für rechtmäßig erklärt. Doch die meisten Experten stimmen darin überein, dass sich dies nur auf Fälle bezieht, bei denen Personen sich noch direkt am Zaun befinden. Sobald sich Schutzsuchende auf EU-Boden befinden, haben diese Anspruch auf Rechtsschutz.

Ein zwölf Kilometer langer Grenzzaun trennt das spanische Melilla von MarokkoBild: Kawe Vakil/DW

Auf der spanischen Seite der Grenze, in Melilla, konnte Lokaljournalist Javier Angosto die Ereignisse aus nächster Nähe beobachten. Spanische Beamte hatten alle Zufahrtswege zur Grenze gesperrt, der Reporter konnte sich aber querfeldein durchschlagen. Und auch er bestätigt die Aussagen des Sudanesen: "Ich habe selbst gesehen, wie 30 bis 40 Migranten es bereits geschafft hatten, über die Grenze zu kommen. Sie wurden dann wieder abgeschoben - entgegen geltenden Regeln", erinnert sich der Journalist. "Die spanische Polizei hat sie einfach eingesammelt und zurück nach Marokko geführt."

Regierungschef der Region wirbt um Verständnis

Auch der Regierungschef der autonomen Stadt Melilla, Eduardo de Castro, räumt im DW-Interview ein, dass eventuell nicht allen Migranten die Chance auf einen Asylantrag gegeben wurde. "Es mag sie im ein oder anderen Fall gegeben haben, aber Asylthemen liegen nicht in meinem Zuständigkeitsbereich als Regionalchef. Das betrifft das spanische Innen- und Außenministerium." Gleichzeitig wirbt der Politiker um Verständnis für die schwierige Situation von Melilla. "Es gibt viele Versuche, die Grenze zu überqueren. Wir sind alle besorgt. Der Krieg, der Anstieg der Getreidepreise, die Hungerkrisen: Das hat alles spürbare Auswirkungen."

Migranten versuchen am 24. Juni den Grenzzaun der spanischen Exklave zu überwindenBild: Javier Bernardo/AP/dpa/picture alliance

Für Lokaljournalist Javier Angosto ist es unverständlich, dass die Tragödie vom 24. Juni bisher kaum politische Konsequenzen hatte. In einigen spanischen Städten kam es zu vereinzelten Protesten, die Vereinten Nationen fordern eine unabhängige Untersuchung, Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska soll nach der Sommerpause vor dem Europäischen Parlament erscheinen. Innerhalb der spanischen Regierung sieht man hingegen keinen Grund zur Selbstkritik. Spaniens sozialistischer Premier Pedro Sánchez lobte sogar die Arbeit der Sicherheitskräfte auf beiden Seiten und will die Zusammenarbeit mit Marokko weiter intensivieren.

"Marokko übernimmt die Drecksarbeit für uns, ganz einfach. Und wir wollen weiterhin als das "leuchtende Beispiel" in Sachen Menschenrechte gelten", sagt Lokalreporter Angosto und zeigt auf die Spitze des Grenzzauns. Dort sei bis vor einiger Zeit eine besonders brutale Art von Stacheldraht mit scharfen Rasierklingen abgebracht gewesen. "Menschenrechtler haben protestiert und Spanien hat ihn daraufhin abgenommen. Gleichzeitig hat Spanien aber Marokko einfach mehr Geld für seinen Zaun gegeben - und jetzt ist auf der anderen Seite der exakt gleiche Draht angebracht."

"Nichts mehr zu verlieren"

Zurück auf der marokkanischen Seite spricht auch Said Tbel von der marokkanischen Menschenrechtsvereinigung (AMDH) von einer "Komplizenschaft" der beiden Länder. Doch er glaubt nicht, dass sich das Thema mit Deals zwischen Spanien und Marokko in den Griff bekommen lässt. Die zahlreichen Krisen treibe immer mehr Afrikanerinnen und Afrikaner in die Flucht. "Und wo glauben Sie, wo es sie hinzieht? In die am nächsten gelegenen Länder natürlich: Nach Marokko und weiter nach Europa."

Atroon lebt momentan mit ca. 100 anderen Sudanesen in einer verlassenen Schule in Casablanca, MarokkoBild: Ruben Garcia/DW

Auch Migrant Atroon plant schon seinen nächsten Versuch, den Zaun von Melilla zu überwinden. In seine Heimat zurückkehren will er auf keinen Fall: "Dort gibt es keine Möglichkeit, sich frei zu entwickeln, selbst wenn du studiert hast. Du musst entweder zur Armee gehen oder dir eine illegale Arbeit suchen", erklärt der Sudanese. "Ich werde es wieder und wieder versuchen. Wir haben nichts mehr zu verlieren. "

Mitarbeit: Marc Ferrà