Schwere Zeiten für indische Zeitungen
25. Mai 2020Der Morgen von Zoru Bhathena beginnt normalerweise mit einer Tasse Tee und dem Lesen der Zeitung, die an seine Tür gebracht wurde. Doch seitdem das Coronavirus auch in Indien den Alltag bestimmt, musste er von dieser Gewohnheit Abschied nehmen. Ende März wurden 1,3 Milliarden Inder mit einem landesweiten Lockdown konfrontiert. Noch bevor die Ausgangsbeschränkungen am 25. März in Kraft gesetzt wurden, verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken Gerüchte über Zeitungen als gefährliche Virusträger, auch eine angebliche Ärztin trat dort auf mit entsprechenden Warnungen.
Gerüchte über "gefährliche" Zeitungen
Der Unternehmer Bhathena glaubt, dass diese Panikmache einer der Mitauslöser dafür war, dass viele Wohnsiedlungen in Mumbai plötzlich die Zeitungszusteller nicht mehr auf ihr Gelände lassen wollten. Auch in Bhathenas Haus sei das so gewesen. Doch damit wollte er sich nicht abfinden. Es dauerte über einen Monat, bis Bhathena einen Verlag fand, der die Auslieferung selber übernimmt. So erhält er jetzt jeden Tag 30 Exemplare der Lokalzeitung Mid-Day. Die 29 anderen gibt er an Nachbarn ab, die sie auch lesen wollen. Der Zeitungsbote darf allerdings nur bis zum Tor der Wohnsiedlung, so lautet die Vorgabe der Hausgemeinschaft.
Dabei geht es dem 45-Jährigen nicht nur darum, dass er seine morgendliche Lektüre wieder aufnehmen kann. Bhathena stören die Gerüchte, die gerade Unruhe schaffen. "Papier ist eines der Materialien, bei dem das geringste Infektionsrisiko besteht", sagt Bhathena, dessen Firma medizinische Geräte produziert. "Wenn es wirklich gefährlich wäre, wären wir schon alle an den schmutzigen Geldscheinen gestorben, die wir täglich anfassen. Es ist traurig zu sehen, wie das 'E-Coronavirus' so viele falsche Nachrichten überträgt".
Lieferketten unterbrochen
Auch die indischen Zeitungsverlage reagierten Ende März mit einer Klarstellung, dass Zeitungen keine Infektionsherde seien. Herstellung und Verteilung von Presseerzeugnissen waren von den Beschränkungen des Lockdowns ausdrücklich ausgenommen, sie wurden zu unverzichtbaren Bereichen des öffentlichen Lebens erklärt. Dennoch entwickelte sich die Situation etwa in Mumbai dramatisch. Zuerst hatte die Sorge, sich anzustecken, zu einem Boykott der Zeitungszusteller geführt. Die meisten Pressehäuser in Mumbai hielten daraufhin die Druckmaschinen an.
Das bekam auch der Händler Yadav in seinem Kiosk zu spüren (Artikelbild). Er hat auf seinem Bestellzettel rund 90 Titel von Zeitungen und Magazinen, die er vormittags an seinem Stand verkauft, nachdem er bereits in der Frühe Zeitungen ausgetragen hat. Normalerweise. Zwei bis drei Millionen Exemplare werden im Großraum Mumbai täglich verkauft, jedenfalls bis die Corona-Pandemie die Metropole an der indischen Westküste erreichte. Yadav hat sich das Zeitungsgeschäft mühsam aufgebaut. Er schickt jeden Monat Geld nach Hause zu seiner Familie in Nordindien, die er seit langem nicht mehr gesehen hat. Während sein Geschäft brach lag, wollte gerne nach Hause fahren, aber alle Verkehrsverbindungen waren unterbrochen.
Überlebenskampf
Seit Anfang April hat Yadav seinen Straßenstand wieder geöffnet. Manche Titel erscheinen inzwischen wieder, nachdem auch die Zusteller ihre Arbeit wieder aufgenommen haben - beziehungsweise gerne aufnehmen würden. In vielen Teilen Indiens wurde der seit Ende März geltende Lockdown zum dritten Mal verlängert, aktuell bis Ende Mai. Umso länger er anhält, um so schwerer ist es für die Verteiler, über die Runden zu kommen.
Ein Zeitungsverkäufer aus dem Zentrum Mumbais erzählt der DW, dass sein Geschäft schon nach der ersten, eintägigen Ausgangssperre am 22. März zusammengebrochen ist. Erst in der zweiten Aprilwoche habe er wieder Ware erhalten. Langsam kommen seine alten Kunden zurück und ein paar neue hinzu, die er mit Großlieferungen versorgt. Dann kam der nächste Schlag: Die Lieferung von Zeitungen bis an die Haustüre ist seit 20. April von der Regierung des Bundesstaates Maharashtra untersagt.
"Wenn Lieferdienste Lebensmittel oder Seife zustellen dürfen, warum dürfen dann keine Zeitungen geliefert werden?", fragt der Mittvierziger, der in seinen über 20 Jahren im Zeitungsgeschäft noch nie eine solche Ausnahmesituation erlebt hat. Normalerweise stehen 5000 Haushalte auf seiner Liste, jetzt sind es noch zehn Prozent davon, was für ihn einen massiven Einkommensverlust bedeutet.
Erholung wird dauern
Der Verkauf an einem Straßenstand sei nicht sehr profitabel, denn man wisse nie, wie viel man verkaufe. Das Geschäft machten die Händler mit der Lieferung nach Hause, da das ein fixes monatliches Einkommen für sie sei, erklärt Sanjay Chaukekar, Präsident der Zeitungszusteller-Gewerkschaft BVVS. Die direkte Auslieferung durch Verlage, wie bei Mid-Day, hält Chaukekar für keine dauerhafte Lösung. "Spätestens wenn Mumbai wieder zum Leben erwacht, brauchen sie uns, denn wie sollten sie es bei Mumbais Staus schaffen, bis 7.30 Uhr alle Zeitungen auszutragen?"
Diese Arbeit übernehmen die 5000 Zeitungsverkäufer mit durchschnittlich sieben bis acht Teilzeitbeschäftigten. Viele der jungen Männer, die als Verteiler arbeiten, wohnen in ihrem Zustellbezirk oder in der Nähe und gehen nach getaner Arbeit einem weiteren Job nach. Auch Chaukekar möchte wieder bis an die Türe zustellen, wenn die Politik grünes Licht gibt. Seit kurzem liefert er wieder an einen Großteil seiner Kunden. Abholen müssen diese ihre Zeitung allerdings im Hausgang oder beim Pförtner. Doch bis die Verteilung der Zeitungen wieder das Niveau wie vor der Krise erreicht, schätzt Chaukekar, könne es ein Jahr dauern.
Existenzkrise für kleine Zeitungen
Die schwierige Absatzlage wirkt sich auch auf die Werbeeinnahmen aus. "Viele Journalisten haben in den vergangenen zwei Monaten ihre Arbeit verloren", sagt Lata Mishra vom Mumbai Press Club, die die Situation mit Sorge beobachtet. "Am schlimmsten betroffen sind Zeitungen in lokalen Sprachen. Kleinere wie die hindisprachige 'Hamara Mahanagar' wurde geschlossen. Sie können ohne Werbeeinnahmen nicht überleben", sagt Mishra.
Der Presseclub kritisiert die Entscheidung der Regierung von Maharashtra, die Haus-zu-Haus-Zustellung von Zeitungen zu verbieten. Dadurch werde den Lesern Angst eingeflößt. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für die Zeitungen in der Corona-Krise würden dadurch zusätzlich verschärft.
Einbruch bei Werbeeinnahmen
Nach Angaben des Branchenverbands Indian Newspaper Society (INS) verzeichnen die Zeitungen einen Rückgang an Anzeigen von Regierung und Behörden um 80 bis 85 Prozent und an privaten Anzeigen um 90 Prozent. Das entspreche fehlenden Einnahmen im März und April in Höhe von 500 Millionen Euro (4.000 bis 4.500 RS Crore). Laut INS sind 900.000 bis eine Million Menschen direkt bei den Zeitungen beschäftigt, und weitere knapp zwei Millionen indirekt.
Die Werbeeinnahmen sind für die indischen Zeitungen extrem wichtig, denn die physischen Herstellungskosten sind viel höher als der Verkaufspreis. So kostet die "Times of India" fünf Rupien (6 Euro-Cent), bei Produktionskosten von 20 bis 25 Rupien (25 bis 30 Cent). Sie hat vor ihrer E-Paper-Ausgabe nun eine Paywall errichtet. Für Bhathena wäre das kein Problem, aber er kauft sie lieber an einem Kiosk in seiner Nachbarschaft, der wieder geöffnet hat. Gut für ihn und den Kioskbetreiber, aber für die Printunternehmen weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein.