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PolitikNahost

Ägypten: "Mein Bruder droht zu sterben"

8. November 2022

Seit vergangenem Sonntag verweigert der in Ägypten inhaftierte Aktivist Alaa Abdel Fattah die Aufnahme von Wasser, um gegen seine erneut verlängerte Haft zu protestieren. Die DW sprach mit seiner Schwester Sanaa Seif.

Ägypten und Russland | Grossbritannien | Free Alaa | Aktivistinnen Abdel-Fattah und Lucas
Alaa Abdel Fattahs Schwester Sanaa Seif (l.) demonstriert am 1. November 2022 zusammen mit der Abgeordneten Caroline Lucas vor dem Auswärtigen Amt in London für die Freilassung von Alaa Abdel FattahBild: Kin Cheung/AP/picture alliance

Seit mehr als 200 Tagen ist er im Hungerstreik, seit Beginn der Weltklimakonferenz in Scharm el-Scheich am vergangenen Sonntag trinkt er kein Wasser mehr: der ägyptische Blogger und Aktivist Alaa Abdel Fattah. Damit ist sein Leben unmittelbar bedroht. Unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz, die deutsche Menschenrechtsbeaufragte Luise Amtsberg und die britische Regierung setzen sich für seine Freilassung ein.

Der 1981 geborene Blogger war eine wichtige Figur des Arabischen Frühlings 2011 in Ägypten. Im Jahr 2005 wurde er von der DW und Reporter ohne Grenzen für sein damaliges Weblog ausgezeichnet

2013 wurde Abdel Fattah beim Protest gegen ein verschärftes Demonstrationsgesetz festgenommen und verurteilt. Nachdem er 2019 zunächst freigelassen wurde, nahmen die Behörden ihn wenige Monate später erneut fest. Im vergangenen Jahr wurde er dann erneut zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Die Justiz wirft ihm vor, "Falschinformationen" verbreitet zu haben. Das ist in Ägypten ein gängiger Vorwurf gegen Dissidenten.

Die DW sprach mit Abdel Fattahs Schwester Sanaa Seif. Sie selbst war seit der Machtübernahme des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi 2013 ebenfalls zweimal inhaftiert. Im vergangenen Dezember kam sie nach 18-monatiger Haftstrafe wegen "Verbreitung von Falschnachrichten" frei. Derzeit nimmt sie an der Weltklimakonferenz in Scharm el-Scheich teil. Von dort gab sie der DW am späten Dienstagabend Ortszeit (08.11.2022) das Interview.

DW: Frau Seif, wie steht es in diesen Stunden um Ihren Bruder?

Sanaa Seif: Wir wissen nichts, haben keinerlei Informationen. Meine Mutter hat gestern den ganzen Tag vor dem Gefängnis verbracht und versucht, einen Brief oder sonst ein Lebenszeichen zu bekommen. Aber man hat ihr gesagt, dass er sich weigere, einen Brief zu schreiben. Wir haben die britische Regierung um Hilfe gebeten, weil wir keinen Zugang zu ihm haben. Normalerweise erhalten wir einen Brief pro Woche, der uns gestern allerdings nicht erreichte. Der nächste geplante Besuch wäre am 16. November. Doch das wäre zu spät: Es wäre zehn Tage nach dem letzten Glas Wasser. Wir bitten darum die britische Regierung, dass sie uns dabei unterstützt, einen täglichen Beweis zu erhalten, dass Alaa noch lebt.

Kämpft um das Leben ihres Bruders: Sanaa SeifBild: Mohamed Abd El Ghany/REUTERS

Also haben Sie keinerlei Kontakt zu ihm?

Nein, keinen.

"Wir haben Angst"

Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie in dieser Situation?

Wir geben unser Bestes, um ihn zu retten. Aber wir sind natürlich in Panik. Ich selbst nehme an der Weltklimakonferenz in Scharm el-Scheich teil und versuche dort so gut wie möglich, auf die Situation meines Bruders aufmerksam zu machen. Meine Schwester ist in London und versucht von dort aus zu helfen. Und meine Mutter ist in Kairo und versucht, ihm so nah wie möglich zu sein. Aber wir haben Angst. Ich rufe regelmäßig meine Mutter an und frage sie: 'Hast du Neuigkeiten? Nein? Okay, dann arbeiten wir weiter.' Niemand von uns will sich der Aussicht stellen, dass wir Alaa verlieren. Doch mein Bruder droht zu sterben.

"Ich traue der Regierung nicht"

Haben Sie Hoffnung, dass er gerettet werden kann? Ist die internationale Solidarität hilfreich?

Hinter Gittern: Alaa Abdel Fattah während eines Prozesses im Jahr 2015Bild: KHALED DESOUKI/AFP

Die Solidarität hält mich aufrecht und gibt mir Hoffnung. Die Medien und Aktivisten, die Nobelpreisträger, die in einem Brief seine Freilassung fordern: All dies gibt mir Hoffnung. Es ist schwer vorstellbar, dass wir mit dieser Menge an weltweiten Solidaritätsbekundungen nicht in der Lage sein werden, ihn zu retten. Aber dennoch bin ich auch vorsichtig. Ich traue der Regierung nicht. Ich traue den Politikern nicht. Das Regime in Ägypten ist rücksichtslos. Sie haben schon früher Menschen getötet. Vor weniger als einem Monat starb ein anderer Gefangener an den Folgen eines Hungerstreiks. Dies ist nicht der erste und nicht der letzte Fall. Aber dann denke ich daran, dass wir Glück haben, dass sich viele Menschen für Alaa eingesetzt und über ihn gesprochen haben. So ist er vielleicht in Sicherheit.

Und doch wird die Zeit knapp.

Ja, und darum bitte ich, helfen Sie Alaa! Nicht nur, weil er unschuldig ist und neun Jahre lang eine sehr bedrückende Zeit durchlitten hat. Sondern auch, weil es sich um einen Fall handelt, der für die allgemeine Situation in Ägypten bezeichnend ist. Man schätzt die Zahl der politischen Gefangenen auf 60.000.

Ihr Bruder hat sich entschieden, kein Wasser mehr zu sich zu nehmen. Wie kam er zu dieser extremen Entscheidung?

"Extrem ist auch, was wir ertragen"

Das bin ich schon mehrere Male gefragt worden. Warum trifft jemand eine solche Entscheidung? Ja, sie ist extrem. Aber extrem ist auch, was wir ertragen. Er hat nun mehr neun Jahre lang diesen Wahnsinn im Gefängnis ertragen, immer in der Hoffnung, dass es zu Ende geht. Er hat seine volle Strafe abgesessen und dann darauf gesetzt, dass er entlassen wird. Dann aber eröffnete man einen neuen Prozess. Es ist also endlos und wenn er nun sein Leben riskiert, dann nicht, weil er sterben, sondern weil er leben will. Um kein Leben im Gefängnis zu leben. Denn ein Leben im Gefängnis ist nicht lebenswert. Deshalb möchte ich mich bei allen bedanken, die Solidarität zeigen. Und ich möchte sie bitten, damit weiterzumachen. Denn wir haben nur eine Chance, weil es so viel Solidarität gibt. Und deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie uns weiterhin! 

Das Interview führte Kersten Knipp.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika