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Schwierige Heimat: Lizzie Doron und Israel

Silke Bartlick
19. April 2018

Die Traumata der Judenverfolgung waren jahrelang das Thema der israelischen Autorin Lizzie Doron. Dann lernte sie einen Palästinenser kennen, freundete sich mit dem Feind an und alles änderte sich, erzählte sie der DW.

Farbporträt der israelischen Schriftstellerin Lizzie Doron.
Bild: picture-alliance/Sven Simon/A. Fleig

Lizzie Doron wurde 1953 als einzige Tochter einer Holocaust-Überlebenden in Tel Aviv geboren. Zu ihrem aus Warschau stammenden Vater, der sich in einem Sanatorium aufhielt, hatte sie nahezu keinen Kontakt; er starb, als sie acht Jahre alt war. Die Mutter erzählte ihr nichts von den traumatischen Erlebnissen in den Konzentrationslagern, sondern hielt die Tochter an, für die Zukunft zu leben. Mit 18 verließ Lizzie Doron Tel Aviv und lebte als Kibbuznik auf den Golanhöhen, anschließend studierte sie Linguistik. Ihre Mutter starb 1990. Als Lizzie Dorons Tochter später mehr über die Familiengeschichte wissen wollte, gab es auf viele Fragen keine Antwort. Lizzie Doron begann zu forschen, so entstand ihr Buch "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?", das in Israel längst Schullektüre ist.

Die Traumata der Judenverfolgung und die "dauerhafte, unheilvolle Bindung zwischen Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern", so die Neue Zürcher Zeitung (16./17.2.2008), wurden zu Dorons zentralem Lebens- und schriftstellerischem Thema. Mit ihrem Buch "Who the fuck is Kafka" (2015) wandte sich die Autorin dann dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu. Es erschien, wie nun auch "Sweet Occupation" (2017) zunächst auf Deutsch. Lizzie Doron lebt in Tel Aviv und Berlin. 

 

DW: Israel feiert in diesem Jahr den 70. Jahrestag seiner Staatsgründung. Was bedeutet Ihnen das? 

Lizzie Doron: Es  ist ein Datum, das viele, viele Fragen aufwirft. Denn ich muss sagen, als Kind hatte ich eine andere Vorstellung von meinem Land, von meinem Volk. Ich war sicher, dass wir einen wunderbaren Traum haben, nämlich liberal zu sein, für Freiheit zu stehen, einen Staat für die Juden aufzubauen, aber andere hereinzulassen, damit sie unseren traditionellen Glauben mit uns teilen. Wir haben gedacht, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg Schutz und ein Obdach finden. Aber nach und nach hat sich etwas verändert. Das ist wie in einer Liebesgeschichte oder einem Traum, einem phantastischen Traum. Die Realität ist anders. Und jetzt bin ich nicht in Feierstimmung. Ich denke, es ist an der Zeit, mutig zu sein und ernste Fragen zu stellen und zu versuchen zu verstehen, warum sich – aus meiner Sicht – so viel in die falsche Richtung entwickelt hat. 

Der erste israelische Premierminister, David Ben-Gurion, verkündetw am 14. Mai 1948 in Tel Aviv die Gründung des StaatesBild: picture-alliance/dpa

Empfinden Sie Israel als Ihre Heimat?

Ich denke, dass Tel Aviv meine Heimat ist. Denn ich kann mir nicht vorstellen, mein Leben als Siedlerin in der Westbank zu verbringen. Und ich sehe mich nicht in Jerusalem, einer sehr religiösen Stadt. Das heißt also, ich habe einen Platz in meinem Land. Aber ich muss anmerken, dass mir gerade jetzt eine Heimat nicht reicht. Ich habe wahrscheinlich Glück, dass ich in zwei Städten leben kann (Anmerkung der Redaktion: Tel Aviv und seit einigen Jahren Berlin). Das ist insofern interessant, weil Sie sicher bemerkt haben, dass ich nicht von Ländern spreche, sondern ganz bestimmten Orten mit einer ganz bestimmten Atmosphäre. Aktuell bevorzuge ich wirklich Städte, um dort meine Zeit und mein Leben zu verbringen.

Wenn Sie von Tel Aviv nach Jerusalem kommen, was empfinden Sie?

Jerusalem ist für mich der Ort, der die Menschen spaltet. Die Vergangenheit ist wichtiger als die Gegenwart. Gott nimmt mehr Platz ein als die Menschen. Jerusalem hat alle Zutaten, um eine gespaltene Gesellschaft aufzubauen. Hier denkt man nicht rational über Menschen, das Leben, die Geistesverfassung, sondern versucht, andere auszuschließen. Ich denke, dass Jerusalem für einen anderen Traum steht. In Israel ist es eine Art unsichtbarer Kampf: Welche Stadt übernimmt die Führungsrolle im Land? Denn es geht um ganz unterschiedliche Werte und Lebensstile. Tel Aviv steht für Freiheit, für Menschenrechte, für Toleranz. In Jerusalem - und ich spreche nicht nur von den jüdischen Gemeinden - behauptet jeder, die Alleinvertretung für seine Religion, seinen Stamm oder seine Gemeinschaft zu haben und will den anderen überlegen sein.

Die Frage ist also, ob das Land den Weg Tel Avivs einschlägt oder den Jerusalems?

Ja, und irgendwie ist das eine gewaltige Diskussion. Ich denke, dass sich in Israel zwei Identitäten etabliert haben. Eine ist die Demokratie, die andere ist der jüdische Staat. Und ich habe den Eindruck, dass die beiden zusammen nicht funktionieren. Denn orthodox zu sein oder religiös passt nicht zur Demokratie. Und aktuell gibt es viele säkulare, liberale und nicht religiöse junge Menschen, die zumindest neugierig prüfen, welche Möglichkeiten sie haben, in anderen Ländern zu leben. Das kommt bei religiösen Menschen nicht vor. 

Ist Ihr letztes Buch "Sweet Occupation" mittlerweile in Israel erschienen?

Nein.

Und auf Arabisch?

Nein.

Warum nicht?

Bild: dtv

Ich denke, das ist hat viel mit mir persönlich zu tun. Ich stehe für die Geschichte der "Zweiten Generation". Ich war in Israel eine Art Ikone, die die Geschichte der Holocaust-Überlebenden, der Opfer erzählt hat. Ich war also eine jener Autorinnen, die die jüdische Geschichte erzählt und zu einem jüdischen Narrativ beigetragen haben. 2009, während einer Konferenz in Rom, habe ich dann einen Palästinenser kennen gelernt. Das war für mich der Wendepunkt, denn ich war wirklich erstaunt, dass ich immer nur in meiner eigenen Geschichte gegraben habe und die Geschichte meiner Nachbarn nicht kannte. Und als ich beschlossen habe, über die Palästinenser und ihr Leben unter der Besatzung zu schreiben, da war ich sicher, dass da eine gewisse Kontinuität ist, von meinem historischen Hintergrund in Europa zum Holocaust.

Ich war dann bereit, andere Geschichten anzuhören, über  Menschen, die wie wir fühlen, die vom Regime unterdrückt werden, auch wenn das in diesem Fall unser eigenes ist, und habe zwei Bücher geschrieben, in denen es um die palestinensische Geschichte geht. Und ich war sehr stolz. Als ich dann zu meinem Verleger gegangen bin, war er sehr überrascht, dass ich das Thema gewechselt habe. Er sagte, dass sich der Holocaust besser verkauft. Und er hat meine letzten beiden Bücher "Who the fuck is Kafka" und "Sweet Occupation" (Anmerkung: in Deutschland erschienen bei dtv) abgelehnt. Aber nachdem ich privat diesen Palästinenser getroffen habe, der unter der Besatzung lebt, nachdem ich seine Familie besucht und an seinem Leben teilgenommen habe, bin ich ganz sicher, dass ich mich wirklich mit dem richtigen Thema beschäftige. Das ist jetzt mein neuer Auftrag.

Sie haben mit Muhammed, Jamil und Suleiman, alle sind Palästinenser und ehemalige Feinde, viel Zeit verbracht. Was hat das mit Ihnen ganz persönlich gemacht?

Die Menschen hinter der Fassade des Feindes zu entdecken war ein bedeutender Moment in meinem Leben. Erstmal reduziert das die Angst. Außerdem bietet es einem auch Chancen, man kann sein Leben verändern. Und ich merke, dass ich ganz persönlich freier bin, - nicht nur als Autorin mit politischen Ansichten oder den besseren Argumenten -, seit ich einen "Terroristen", also den "Dämon" getroffen habe. Das war der, der mich angeblich töten wollte, und einer meiner besten Freunde wurde. Ich muss Ihnen sagen, das ist ein Geschenk. Und ich bin sehr dankbar, dass die Palästinenser diese Reise mitgemacht haben.

Lizzie Dorons Freundschaft zu Palästinensern irritiert viele Israeli Bild: Reuters/M. Qawasma

Heißt das, das Schreiben hat Ihr Leben und Ihre Ansichten verändert?

Mehr noch, denn es hat die Geschichte meiner Familie verändert, um das mal so zu sagen. Wir teilen unsere Zeit zwischen Tel Aviv und Berlin auf. Meinem Mann und meinem Sohn gefällt die Stadt nun auch. Mein Sohn hat beschlossen Israel zu verlassen, er ist nun in Deutschland. Und mein Mann verbringt viele Tage mit mir in Berlin, er arbeitet von hier aus. Ich denke, dass wir nicht mehr die Familie sind, die wir vor der Beschäftigung mit den palästinensischen Geschichten waren. Hinzu kommen die Reaktionen unserer Freunde – der rechtsstehenden oder jener, die überhaupt nicht verstehen können, was mit mir passiert ist. Viele denken, dass mir etwas ganz Böses zugestoßen ist, viele können meinen Wunsch nicht verstehen, in Berlin, in Deutschland zu wohnen. Mein Leben hat sich total verändert. Die meisten meiner Freunde sind jetzt Deutsche oder Palästinenser. Ich habe nur noch wenige jüdische Freunde.       

Aber warum haben Sie sich für Berlin entschieden? Es waren doch Deutsche, die sechs Millionen Juden umgebracht haben.

Nun, ich bin zwar in Israel geboren, aber meine Mutter kommt aus Wien. Insgeheim hatte ich ein Zuhause, das eine Reihe von Problemen hatte, das Land Israel anzunehmen. Meine Mutter hat nachts laut deutsche Literatur gelesen. Wir hatten eine kleine Wohnung, und sie ging durch die beiden kleinen Räume. Sie war sich sicher, dass ich tief schlafe und in einem Traum unterwegs bin, und hat Goethe und Schiller und Heine vorgelesen.

Das war wie ein Mantra, jede Nacht habe ich die deutsche Sprache gehört. Und an guten Tagen, wenn sie Geld hatte, an Geburts- oder Feiertagen, dann hat sie Wiener Schnitzel gemacht mit Kartoffeln und Sahne und Kraut. Und zum Nachtisch gab es immer Apfelstrudel mit Vanillesauce. Ich bin also mit dem tiefen Gefühl aufgewachsen, dass es noch einen anderen Platz für uns gibt. Etwa Schreckliches war passiert, und meine Mutter musste den Standort wechseln. Aber sie konnte die Kultur nicht hinter sich lassen.Die tiefe Liebe und Zugehörigkeit zu einem anderen Ort auf der Welt. Deshalb gab es für mich nachts zu Hause die vertrauten Geschichten und die alte Kultur. 

Lizzies Mutter konnte ihre Heimatstadt Wien nie vergessen Bild: picture-alliance/IMAGNO/Photoinstitut Bonartes

Draußen, in Israel, habe ich den zionistischen Traum geträumt - Soldatin zu sein, stark zu sein, Israel zu sein. Zwischen diesen beiden Welten habe ich dann die Geschichte vom Holocaust gehört. Eins hat mir meine Mutter immer wieder gesagt: Es gibt niemanden, der den Holocaust ohne eine helfende Hand überlebt hat. Und wenn ich die Gelegenheit hätte, jemandem zu helfen, dann sollte ich als Mensch das als Auftrag verstehen. Nachdem sie gestorben war, habe ich herausgefunden, dass sie von einem deutschen SS-Arzt gerettet worden war. Und nach dem Krieg, ich wusste davon nichts, hat sie in seinem Prozess ausgesagt und das Gericht gebeten, ihn nicht zu töten, weil er sie gerettet hat.

Vielleicht ist es deshalb so, dass ich die Deutschen nicht grundsätzlich hassen kann. Gerade jetzt fällt es mit leichter, mit Deutschen zu sprechen. Sie wissen um den Preis des Krieges, im Gegensatz zu den Israelis, die immer noch denken, dass man Feinde im Krieg besiegen kann. Deshalb bin ich zwischen diesen beiden Ländern und ihren Menschen hin- und her gerissen und frage mich, wo der beste Platz ist. Aber ich denke, dass es naheliegend war, dass ich Deutschland gewählt habe. Es ist Teil meiner Identität, so, wie Israel Teil meiner Identität ist.

Das Gespräch führte Silke Bartlick. 

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