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Politik

Sechs Baustellen neben dem Asylstreit

16. Juni 2018

Wohn-Engpass, Digitalisierung, Investitionsstau und vieles mehr: Während CDU und CSU um Asyl streiten, bleiben andere wichtige Herausforderungen unserer Zeit liegen.

Deutschland Schlagloch-Minigolf in Offenbach
Um auf die schlechten Straßen aufmerksam zu machen, hat ein Verein in Offenbach zum "Schlagloch-Minigolf" aufgerufenBild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

"Die Aufgabe, unser Land zu regieren, ist keine Folge von Game of Thrones, sondern eine ernste Angelegenheit." Das sagte Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) über den heftigen Streit seiner beiden Koalitionspartner CDU und CSU, ob Deutschland Asylbewerber an der Grenze zurückweisen darf. Der Streit schwillt zur Schicksalsfrage der Regierung Merkel an und bestimmt die politische Lage. Zumindest bei Game of Thrones kämen zwischen dem Duell Merkel-Seehofer immer mal wieder Szenen aus anderen Handlungssträngen - denn auch in der deutschen Politik gibt es neben dem Asylstreit noch andere große Baustellen.

Wenn Filialen in kleinen Dörfern nicht mehr rentabel sind, satteln Banken auf mobile Filialen um - zum Beispiel im hessischen DillenburgBild: Telespazio VEGA Deutschland

1. Wohn-Engpass

Wer in deutschen Großstädten eine Wohnung sucht, braucht ein robustes Nervenkostüm. Bundesweit fehlen eine Million Wohnungen - und die Wohnungen, die gebaut werden, sind häufig Luxusobjekte, während viel mehr günstige Wohnungen für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen benötigt werden. Finanzminister Scholz will vier Milliarden Euro in den Wohnungsbau investieren. Experten bemängeln, dass so viel Geld pro Jahr statt in der gesamten Legislaturperiode benötigt würde, um etwas zu erreichen. Den Mangel lindern könnten Grundstücke des Bundes: In den sieben größten Städten besitzt der Staat 970 unbebaute Grundstücke.

Die Nachfrage ist auch deshalb so hoch, weil viele Menschen aus ländlichen Regionen in die Städte ziehen. Deshalb wird es für Regionen, die stetig an Einwohnern verlieren, immer schwieriger, eine Versorgung aufrecht zu erhalten: Beispielsweise für Sparkassen und Busbetreiber bleiben immer weniger Kunden, um die Fixkosten zu decken, für höher Qualifizierte wie Ärzte sinkt die Attraktivität, sich auf dem Land niederzulassen. Und weil gerade junge, gut ausgebildete Menschen zum Arbeiten in die Städte gehen, wird die Landbevölkerung im Schnitt älter und ärmer.

Auf dem Gelände der Berliner Charité fahren seit März autonome Elektro-BusseBild: Imago/C. Thiel

2. Wirtschaftliche Entwicklung

Im Moment noch boomt die viertgrößte Industrienation der Welt. Das verdeckt allerdings die zahlreichen Herausforderungen, vor denen das Land steht, will es auch in Zukunft zu den führenden Wirtschaftsnationen der Welt gehören. Allein mit den derzeitigen Top-Branchen Maschinenbau und Autoindustrie kann das nicht gelingen. Gerade die Automobilhersteller stehen vor einer Herkulesaufgabe: Sie müssen die Dieselgate-Vergangenheit bewältigen und den technologischen Umbruch meistern: Hin zu alternativen Antriebsformen und autonomen Fahren.

Ein Lichtblick: Fast die Hälfte der weltweiten Patente zum autonomen Fahren kommt aus Deutschland. Die digitale Transformation betrifft aber nahezu alle anderen Branchen auch: Dafür stehen unter anderem die Schlagworte Industrie 4.0 und Künstliche Intelligenz (KI). Will Deutschland hier vorne dabei sein, braucht es dringend massive Investitionen in die digitale Infrastruktur, zum Beispiel ein flächendeckendes Mobilfunknetz mit dem neuesten 5G-Standard. Aber Deutschland braucht noch mehr: Hochwertige Bildung und ein bessere Förderung für innovative Startups. Dazu kommt: Das Arbeitsrecht muss umfassend an die moderne Arbeitswelt angepasst werden. 

Kaputte Schienen gab es im August 2017 ausgerechnet auf der stark befahrenen Rheintrasse, wo sich Gleise abgesenkt hattenBild: picture-alliance/dpa/U. Deck

3. Riesiger Investitionsstau

In Deutschland wird zu wenig investiert - darunter könnte künftiges Wachstum leiden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) betont ständig, wie wichtig es sei, dass in Deutschland mehr Geld ausgegeben wird. Damit würde sich auch der gigantische und oft kritisierte Exportüberschuss Deutschlands verringern.

Öffentliche und private Investoren müssten zusammen bis 2025 insgesamt knapp 1,4 Billionen Euro zusätzlich aufbringen, um in der Vergangenheit versäumte Investitionen aufzuholen. Das geht aus einer aktuellen Studie der Beratungsgesellschaft EY hervor. Danach gehört Deutschland in keinem Bereich zur europäischen Spitzengruppe, seine beste Platzierung im europäischen Vergleich ist ein sechster Platz in der Kategorie Forschung, Innovation und nachhaltige Energie, bei der Digitalisierung ist Deutschland mit Platz elf am schlechtesten. In den übrigen Bereichen Basis-Infrastruktur, Bildung und Gesundheit werden nur Platzierungen dazwischen erreicht. Damit gehört Deutschland in keinem der für das künftige Wachstum wichtigen Investitionsfelder zur europäischen Spitze.

Die Deutsche Bahn beispielsweise hat jahrelang viel zu wenig in ihr 40.000 Kilometer langes Streckennetz investiert, jetzt stauen sich die Vorhaben. Um sie abzuarbeiten, läuft nun eine Sanierungsoffensive: In diesem Jahr gibt es bis zu 850 Baustellen gleichzeitig. Der bundeseigene Konzern investiert in diesem Jahr mehr als neun Milliarden Euro in den Ausbau des Netzes nach 7,5 Milliarden 2017.

Weil es nicht genügend Pfleger gibt, hat Deutschland großen Bedarf an Pflegekräften aus dem AuslandBild: imago/epd

4. Demographischer Wandel

Vor 14 Jahren rüttelte das Buch "Das Methusalem-Komplott" die deutsche Öffentlichkeit auf. Darin entwarf Autor Frank Schirrmacher das Horrorszenario einer vergreisenden Gesellschaft - und einen Kampf jung gegen alt. Die Statistik ist eindeutig: im internationalen Vergleich gehört die deutsche Gesellschaft zu den ältesten. Das Durchschnittsalter lag 2015 bei 44 Jahren, weltweit dagegen bei 29 Jahren.

Das hat erhebliche Auswirkungen - etwa auf die Rente: Derzeit finanzieren drei Beschäftigte einen Rentner, bald sind es nur noch zwei. 2012 wurde das Renteneintrittsalter auf 67 erhöht. Doch reicht das? Oder müssen künftig auch 70-Jährige noch arbeiten? Eine weitere Konsequenz: Je mehr alte Menschen es gibt, desto mehr pflegebedürftige Menschen gibt es. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat nun 13.000 neue Stellen für Pflegekräfte in Aussicht gestellt - der Sozialverband VdK beziffert den Bedarf auf 60.000 neue Stellen.

Hamburg hat als erste deutsche Großstadt im Mai 2018 erste Straßen für ältere Dieselfahrzeuge gesperrtBild: DW/A. Sullivan

5. Klimaschutz

Um 27,9 Prozent hat Deutschland von 1990 auf 2015 seinen jährlichen Ausstoß an klimaschädlichen Treibhausgasen reduziert. Damit rückt das Ziel von 40 Prozent Einsparung bis 2020 - von dem sich die Bundesregierung innerlich ohnehin schon verabschiedet hat - in immer weitere Ferne. Bisher ist die Regierung vor einschneidenden Maßnahmen zurückgeschreckt. Dabei muss jedes Gramm CO2, das heute zu viel ausgestoßen wird, morgen zusätzlich eingespart werden.

So positiv die wirtschaftliche Entwicklung für Beschäftigte und den Fiskus ist: Die Emissionen der Industrie stagnieren seit Jahren. Die Treibhausgase des Verkehrs werden sogar leicht mehr - wohl auch, weil den Deutschen der Umstieg auf regenerative Antriebe schwerfällt. Dass die Politik nicht schon früher die Abkehr vom Verbrennungsmotor unterstützt hat, könnte sich für viele Verbraucher rächen, wenn wegen zu hoher Feinstaub-Konzentration Fahrverbote verhängt werden.

Das Klima zu schützen, ist zwar eine weltweite Aufgabe - deshalb hat die Weltgemeinschaft das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 unterzeichnet, aus dem die USA unter Donald Trump wieder aussteigen wollen. Als wirtschaftlich und politisch bedeutender Staat hat ein Gelingen oder Scheitern der deutschen Klimapolitik jedoch Signalwirkung ins Ausland.

Türkische Gastarbeiter bei ihrer Ankunft in Düsseldorf 1961Bild: picture-alliance/dpa/W. Hub

6. Integration

Das hat lange gedauert: Erst Angela Merkel hat 2015 anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Dabei kamen schon mehr als 60 Jahre zuvor die ersten "Gastarbeiter" nach Deutschland. Heute leben 10,6 Millionen Menschen mit einem ausländischen Pass hier.

Ihre Integration ist eine Mammutaufgabe: Dazu gehören nicht nur Spracherwerb, Schulbildung und ein Arbeitsplatz, sondern auch die Anerkennung eines demokratisch-pluralistischen Wertesystems. Und: Integration ist keine Einbahnstraße, denn auch die deutsche Gesellschaft ändert sich dadurch – zum Beispiel wird darüber diskutiert, einen islamischen Feiertag einzuführen. Doch das verunsichert einige deutschstämmige Menschen, die befürchten, ihre kulturelle Identität zu verlieren. Frappierend dabei ist, dass die Angst vor Ausländern dort am höchsten ist, wo am wenigsten von ihnen leben.

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