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Politik

Parteien rütteln an Erdogans System

Hilal Köylü | Daniel Derya Bellut
8. Oktober 2021

Die Opposition befindet sich im Höhenflug: Die Umfragewerte sind gut, sie tritt so einig auf wie noch nie. Nun fordern sechs Oppositionsparteien den Systemwechsel - sie wollen die parlamentarische Demokratie zurück.

Putin empfängt Erdogan in Sotschi
Bild: Vladimir Smirnov/Sputnik/REUTERS

Im Juni 2018 führte der türkische Präsident ein Regierungssystem ein, das auf ihn selbst zugeschnitten war - das präsidentielle System spricht dem Staatsoberhaupt besonders viele Machtbefugnisse zu. Damit ist Recep Tayyip Erdogan heute so mächtig und omnipräsent, dass man in der türkischen Öffentlichkeit oft von einem "Ein-Mann-Regime" spricht.

Auch wenn die präsidiale Macht Erdogans unverrückbar scheint, versucht die Opposition nun den Systemwechsel, der vor drei Jahren in Kraft trat, wieder rückgängig zu machen. Vertreter der sechs Oppositionsparteien - die sozialdemokratische CHP, die nationalkonservative IYI-Partei, die islamistische Saadet Partei, die prokurdische HDP sowie die beiden Splitterparteien DEVA und die Zukunftspartei - hielten diese Woche im Parlament eine Sitzung ab und einigten sich auf eine Strategie, wie das türkische Parlament wieder zu alter Stärke zurückfinden könnte. Grundsätze wie die Gewaltenteilung oder die präsidentielle Überparteilichkeit habe man diskutiert, heißt es von den oppositionellen Teilnehmern.

Früher Erdogans enger Weggefährte - heute einer seiner größten Gegner: Ex-Premierminister Ahmet Davutoglu (li.)

Opposition überbrückt ideologische Differenzen

"Es ist ein wichtiges Zeichen, dass sich die sechs Oppositionsparteien für ein stärkeres parlamentarisches System zusammenschließen", so Rechtswissenschaftler Levent Köker von der nordzypriotischen Universität des Nahen Ostens. "Es zeigt uns, dass die Opposition vereint gegen die Regierung vorgehen kann und dass diese Bewegung ein starkes Fundament hat. Die Einheit der Opposition wird die Regierung schwächen", prognostiziert Köker. Der Opposition - darunter Islamisten, Nationalisten, Sozialdemokraten und Linksliberale - sei es selten in der türkischen Geschichte so gut gelungen, ihre Kräfte zu bündeln. Trotz ideologischer Differenzen habe sie die Rivalität zu Präsident Erdogan vereint. In der jüngsten Vergangenheit traten die Parteien betont geschlossen auf - sogar bei polarisierenden Themen wie dem sogenannten "Kurdenproblem"; gemeint ist der schon lange schwelende Konflikt zwischen türkischer Mehrheitsgesellschaft und der kurdischen Minderheit.

Die Einheit in der Opposition wird Erdogan schwächen, meint Levent Köker.Bild: Privat

Wahlen 2023: Alles Vorgeplänkel?

Politologe Köker deutet das parlamentarische Treffen als Signal mit Hinblick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023. "Es wird ein Rennen gegen Erdogan. In diesem Rennen wird die Opposition seine Ein-Mann-System und seine Ungesetzlichkeit entlarven." Der Politologe geht davon aus, dass der Oppositionsblock auch bei den Wahlen zusammenarbeiten und sogar einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken wird.

Politologe Murat Somer von der Universität Koç findet hingegen, dass der Wechsel des Regierungssystems, der von der Opposition angestrebt wird, nicht ausreiche. Um den Übergang zu Demokratie zu bewerkstelligen, müsste eine "echte Justizreform" her, die auch eine unabhängige Wahlkommission einschließt. "Ein parlamentarisches System, in dem Wahlen nicht fair und frei sind, wird nur den Fortbestand der gegenwärtigen autoritären Herrschaft sicherstellen." Die Erinnerungen in der türkischen Öffentlichkeit an die Kommunalwahlen im März 2019 sind noch wach: Bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul setzte die türkische Regierung die Wahlkommission unter Druck und erzwang Neuwahlen.

Erdogans Gunst in der Bevölkerung schwindet

Dass die sechs Parteien Erdogans Machtfundament, das präsidentielle Regierungssystem, in Frage stellen, zeigt, wie selbstbewusst die Opposition zurzeit ist. Besonders die Wirtschaftskrise, die seit Herbst 2019 der Bevölkerung enorm zusetzt, hat dem Ansehen der türkischen Regierung geschadet. Das bezeugen regelmäßig Prognosen von Umfrageinstituten wie MAK, Avrasya oder Area, die seit Monaten die Opposition vorne sehen, während die Regierung aus Erdogans AKP und dem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP seit der letzten Präsidentschaftswahl im Juni 2018 stark an Beliebtheit verloren hat. Mit diesen Wahlen war Erdogans präsidentielles Regierungssystem in Kraft getreten. Auch wenn der türkische Präsident durch diese Verfassungsänderung an Macht dazugewinnen konnte - seiner Popularität in der Bevölkerung hat sie bislang nicht genutzt. 

Seit Jahren leidet die türkische Bevölkerung unter Inflation und WirtschaftskriseBild: picture-alliance/AP Photo/L. Pitarakis