Die Bundesregierung lehnt das Angebot deutscher Städte ab, weitere Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria aufzunehmen. Zumindest 400 Minderjährige können aber vor allem nach Frankreich und Deutschland kommen.
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Bundesinnenminister Horst Seehofer wartet einen Moment, bis er die Frage des Journalisten beantwortet. Der wollte an diesem Freitag wissen, ob Deutschland nicht doch wesentlich mehr als die gerade versprochenen 150 minderjährigen Flüchtlingen aus dem abgebrannten Lager Moria auf Lesbos aufnehmen kann.
Nach kurzem Schweigen sagt Seehofer: "Man ist ja mit dem Herzen dabei, wenn man die Bilder von dort sieht." Aber dann fügt der Minister den Satz hinzu, den man so oder so ähnlich schon oft gehört hat: "Wenn Deutschland alleine handelt, können Sie eine europäische Lösung zu den Akten legen."
Schon jetzt, so Seehofer, werde er bei der EU in Brüssel immer wieder darauf angesprochen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen eine "deutsche Angelegenheit" sei. Und das könne nicht angehen.
Ein Haus mit drei Etagen
Seehofer und der griechische Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, sind an diesem Freitag per Video zu einer Pressekonferenz in Berlin zusammengeschaltet. Schinas hat sich gerade auf Lesbos ein Bild von der schlimmen Lage der Menschen dort gemacht. Jetzt teilt er in Athen mit, dass anstelle des abgebrannten Lagers auf der griechischen Insel, in dem zuletzt 12.000 Flüchtlinge lebten, demnächst eine neues "Zentrum" errichtet werden soll, finanziert nicht nur von Griechenland, sondern auch von der EU.
"Moria ist eine eindringliche Warnung, dass in Europa endlich etwas passieren muss in der Flüchtlingspolitik", sagt Schinas dann. Europa müsse jetzt ein "Haus mit drei Etagen" in Sachen Flucht und Asyl errichten. Eine Etage soll aus Abkommen mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge bestehen, damit die Menschen das Land gar nicht erst verlassen. Die zweite Etage seien härtere Kontrollen an den EU-Außengrenzen, mit mehr Personal, und die dritte Etage müsse dann eine effektive Solidarität aller 27 EU-Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen sein.
Aber da blickt Schinas dann doch etwas verschämt zu Boden, denn genau diese Solidarität ist in Europa eben schwer herzustellen. Auch jetzt sind es gerade mal zehn EU-Staaten, die die 400 Minderjährigen aufnehmen wollen. Mit anderen Worten: 17 Länder wollen das nicht. Ganz besonders osteuropäische Länder wie Polen und Ungarn sind strikt gegen die Aufnahme von Geflüchteten.
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Städte kritisieren Europas Fluchtpolitik
Seehofer ist nach der heftigen Kritik der vergangenen Tage in Deutschland an seiner harten Haltung sichtbar bemüht, um Verständnis zu werben. Zahlreiche Städte und Kommunen in Deutschland haben sich bereit erklärt, wesentlich mehr Menschen Schutz anzubieten. Selbst aus den eigenen Reihen der konservativen Parteien von CDU und CSU wurde Seehofer aufgefordert, seinen Widerstand gegen einen deutschen Alleingang aufzugeben.
In einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und an Seehofer hatten zehn deutsche Oberbürgermeister sich entsetzt darüber gezeigt, dass es der Europäischen Union "trotz vielfacher Warnungen nicht gelungen ist, diese Eskalation in Moria zu verhindern." Aber die generelle Entscheidung darüber, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnimmt, liegt bei Seehofer. Und der lehnt das Angebot der Städte ab und pocht auf eine europäische Antwort.
"Eine beschämend geringe Zahl!"
Jetzt sagt der CSU-Politiker, seit 2015 habe Deutschland rund 1,7 Millionen Menschen aufgenommen. Und er lässt seinen Staatssekretär Helmut Teichmann aufzählen, was Deutschland nach der Katastrophe von Moria an Unterstützung für die Menschen leiste. In der Nacht, so Teichmann, sei ein Transport des "Technischen Hilfswerks" (THW) nach Lesbos aufgebrochen, mit Zelten, Schlafsäcken und mobilen Toiletten. Und Seehofer ergänzt, wenn Europa jetzt in einem ersten Schritt die 400 Minderjährigen aufnehme, entfielen Zweidrittel davon auf Frankreich und Deutschland, die die Initiative dafür ergriffen hätten.
EU-Flüchtlingspolitik nach Brand auf Lesbos: Gespräch mit Birgit Sippel, Europa-Abgeordnete
03:55
Dazu sagte die Europa-Expertin der Bundestagsfraktion der Grünen, Franziska Brantner, am Freitag der DW: "Es ist richtig, mit den Verantwortungsbewussten voranzugehen, aber 400 Menschen ist für die zwei größten EU Länder zusammen eine beschämend geringe Zahl. Wir dürfen Griechenland nicht alleine lassen mit dieser Katastrophe und die Bundesregierung trägt mit der Europäischen Ratspräsidentschaft eine besondere Verantwortung voranzugehen."
Das sehen auch viele Hilfsorganisationen und soziale Verbände in Deutschland so. So erklärte die Vorsitzende des "Zukunftsforums Familie" (ZFF), Christiane Reckmann: "Wo bleibt die in Zeiten der Corona-Pandemie viel beschworene Solidarität, wenn es um Menschen geht, die vor Kriegen und Hunger flüchten und unter schrecklichen Bedingungen an den Grenzen Europas ausharren müssen? Wir fordern die sofortige Evakuierung der Lager und setzen uns für die Aufnahme weiterer Geflüchteter ein." Aber Seehofer vergisst am Ende der Pressekonferenz nicht zu betonen, dass er für seine Haltung die Unterstützung der Bundeskanzlerin "und im Wesentlichen" auch des Vizekanzlers von der SPD habe.
Tausende Flüchtlinge in Moria mussten derweil nun schon die dritte Nacht in Folge unter freiem Himmel und in den Hügeln rund um das verbrannte Lager durchstehen.
Die Hölle brennt - Moria und seine Geschichte
Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist niedergebrannt. Die Lage ist ernst. Doch schon vor dem Brand war die Situation in dem völlig überfüllten größten Flüchtlingslager Europas dramatisch.
Bild: picture-alliance/AP Photo/P. Balaskas
Die Nacht der Brände
In der Nacht zum Mittwoch waren in dem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos gleich an mehreren Stellen Brände ausgebrochen. Daher gibt es die Vermutung, dass die Brände absichtlich gelegt wurden. Einige Lagerbewohner sprachen von Brandstiftung durch Einheimische. Es gibt aber auch Berichte, nach denen Flüchtlinge selbst die Feuer gelegt haben sollen.
Bild: Getty Images/AFP/M. Lagoutaris
Auf der Straße gelandet
Die Bewohner des völlig überfüllten Flüchtlingslagers konnten sich retten, offenbar soll es weder Tote noch Verletzte gegeben haben. Nach Angaben griechischer Medien sind viele Menschen auf Hügel und in Wälder in der Nähe des Lagers geflohen. Laut Berichten von Helfern irren Tausende Menschen durch die Straßen, es gebe kein Essen oder Wasser, die Zustände seien chaotisch.
Bild: Imago Images/Xinhua/P. Balaskas
Lebensfeindlich
Ausgelegt war Moria für 2800 Menschen. Zum Zeitpunkt der Brände lebten dort allerdings rund 12.600 Geflüchtete. Die Lebensbedingungen in dem Flüchtlingslager galten schon vor dem Brand als katastrophal. Wenn man sich dieses Foto nach dem Brand anschaut, wird schnell klar, dass dort in naher Zukunft wohl gar kein menschenwürdiges Leben mehr möglich sein wird.
Bild: Reuters/E. Marcou
Nahe an der Türkei
Das Flüchtlingslager Moria befindet sich im Osten der griechischen Insel Lesbos. Bis zur türkischen Küste beträgt die Entfernung rund 15 Kilometer. Lesbos ist die drittgrößte Insel Griechenlands und hat rund 90.000 Einwohner. Rund 38.000 Menschen leben in der Inselhauptstadt Mytilini, die nur wenige Kilometer von Moria entfernt ist.
Das verpixelte Lager
Wer sich das Flüchtlingslager Moria bei Google Maps aus der Luft ansehen möchte, hat Pech. Das gesamte Lager ist unkenntlich gemacht. Auf Anfrage der Deutschen Welle gab es nur die allgemeine Auskunft "Google selbst verpixelt Satellitenbilder nicht". Stattdessen wird auf Drittanbieter verwiesen, die die Satellitenbilder erstellen. Warum das Lager verpixelt wurde, ist unklar.
Bild: 2020 CNES/Airbus, European Space Imaging, Maxar Technologies
Das unverpixelte Lager
Diese Luftaufnahme - wir haben einen ähnlichen Ausschnitt gewählt - zeigt, dass das Lager sich erheblich ausgedehnt hat. Während auf dem Satellitenfoto von Google Maps das Haus mit den roten Dach noch komplett frei stand, scheint es hier vom Lager nach und nach vereinnahmt zu werden.
Bild: DW/D. Tosidis
Der Blick in die Vergangenheit
Die "Street View"-Aufnahmen der Gegend wurden bereits im Dezember 2011 erstellt. Damals gab es das Flüchtlingslager noch nicht. Stattdessen befand sich dort eine alte Militäranlage. Erst ab Oktober 2015 wurden auf dem Gelände Asylsuchende registriert, bevor sie auf das griechische Festland gebracht wurden.
Bild: 2020 Google
Früher kurz - heute lang
Während damals die Migranten nur kurz blieben - dieses Foto stammt aus dem Oktober 2015 -, verlängerte sich die Verweildauer mit dem EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 deutlich. Seitdem warten die Asylsuchenden hier darauf, auf andere EU-Staaten verteilt - oder abgeschoben zu werden.
Bild: DW/D. Cupolo
Warten, warten... und warten
Durch das EU-Türkei-Abkommen dürfen die Migranten nicht mehr auf das griechische Festland gebracht werden. Dann nämlich würde die Türkei sie nicht mehr zurücknehmen. Da sich die EU-Länder uneins sind, welches Land wie viele Migranten aufnimmt, bleiben sie mitunter lange in dem Lager. Viele Nationalitäten unter schlechten Bedingungen auf engem Raum - kein Wunder, dass es da zu Spannungen kommt.
Bild: DW/D. Cupolo
Wenn Spannungen sich entladen
Die Spannungen entluden sich bereits im September 2016 in gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen auch Feuer gelegt wurde. Damals befanden sich "nur" rund 3000 Migranten in dem Lager. Große Teile des Lagers wurden zerstört. Nur einen Monat später setzten mehrere hundert Migranten aus Protest gegen die lange Bearbeitungszeit im Lager Container der EU-Asylbehörde in Brand.
Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Schwarz
Feuer - und Tote
Im September 2019 gab es einen weiteren großen Brand. Damals fing zunächst ein Olivenhain Feuer, auf den sich das Lager mittlerweile ausgedehnt hatte. 20 Minuten später brach ein weiterer Brand innerhalb des befestigten Lagers aus. Dieses Feuer forderte zwei Menschenleben: eine Frau und ihr Baby. Zu der Zeit hielten sich bereits über 12.000 Menschen in dem Flüchtlingslager auf.
Bild: picture-alliance/AP Photo
Besuch abgebrochen
Im August dieses Jahres besuchte Armin Laschet, Ministerpräsident von Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen, Moria. Eigentlich wollte er auch den sogenannten wilden Teil außerhalb des befestigten Lagers besuchen. Das wurde aus Sicherheitsgründen kurzfristig gestrichen. Zuvor hatte sich die Stimmung aufgeheizt und es hatte "Free Moria" Sprechchöre gegeben.
Bild: picture-alliance/dpa/D. Hülsmeier
Und jetzt?
Ein völlig überfülltes Lager, grausige hygienische und medizinische Bedingungen, ethnische Spannungen - und dann gab es vor kurzem noch die ersten Corona-Fälle. Eine katastrophale Situation. Und das war vor dem Brand. Droht nun die Apokalypse oder ist es vielleicht doch der Startpunkt zu einer neuen menschenwürdigeren Unterbringung? Bislang kann - oder will - niemand diese Frage beantworten.