Sehen. Wissen. Glauben.
30. Mai 2025
Ich bin Jahrgang 1960, und ich heiße mit Vornamen Thomas. Einer von unzähligen Thomassen. In jenen Jahren war Thomas in Deutschland der beliebteste männliche Vorname. Heute liegt Thomas nur noch auf Platz 210.
Thomas war ursprünglich kein richtiger Name. Er kommt aus dem Aramäischen, einer Sprache der Bibel. Auf Deutsch bedeutet er schlicht "Zwilling". Eigentlich war Thomas nur ein Zusatz zu einem Namen. Man hieß also zum Beispiel "Hans der Thomas", was so viel hieß wie: "Hans der Zwilling".
Aus dem Beiwerk wurde ein eigener Name, weil einer der Jünger Jesu ein Zwilling war, also "Thomas" genannt wurde. Die Autoren des Neuen Testaments schrieben auf Griechisch und konnten meist kein Aramäisch. Deshalb schrieben sie von "Thomas, der der Zwilling genannt wurde". Das war zwar doppelt gemoppelt. Doch so wurde aus Thomas ein richtiger Name.
Dieser Thomas aus der Bibel hat nun selbst eine Art Beinamen, den er seit 2000 Jahren mit sich rumschleppt: Er wurde der ungläubige Thomas. Wie es dazu kam, erzählt das Johannesevangelium: Nach seiner Auferstehung war Jesus den Jüngern erschienen. Thomas war bei dieser Erscheinung nicht dabei. Als ihm die anderen Jünger begeistert davon erzählen, bezweifelt er deren Berichte und sagt: "Wenn ich nicht in den Händen von Jesus die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben."
Eine Woche später sind die Jünger wieder versammelt, diesmal ist Thomas dabei. Der auferstandene Jesus erscheint tatsächlich. Er sagt "Friede sei mit euch!" und wendet sich direkt an Thomas. Er fordert ihn auf, wirklich die Finger in seine Wunden zu legen, damit Thomas sich sehend und tastend überzeugen und glauben kann, dass Jesus vom Tod auferstanden ist. Er soll nicht länger ungläubig sein, sondern gläubig.
Die Geschichte lässt offen, ob Thomas tatsächlich seine Finger in die Wunden von Jesus legt. Aber er bekennt sich zu ihm und sagt zu Jesus: "Mein Herr und mein Gott!" Und Jesus antwortet: "Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!" (vgl. Johannes 20,19-29)
"Selig, die nicht sehen und doch glauben." Was für ein unseliger, ja unsäglicher Satz! Was Thomas macht, ist doch genau das Richtige und einzig Wahre! Nicht alles nachplappern, nicht aufgrund von Hörensagen und weil es die anderen meinen, auch behaupten: "Jesus ist auferstanden!" Thomas will sehen. Und noch mehr: Er will auch noch fühlen, berühren. Er fragt nach, er will‘s genau wissen.
Er glaubt den anderen nicht ungesehen alles - auch wenn es seine Freunde und Weggefährten sind. Diese Menschen um ihn, seine Bubble, seine Blase, in der er sich bewegt, behauptet etwas Aufregendes und Unglaubliches. Aber Thomas bleibt skeptisch. Er will die Quelle unabhängig und selbständig überprüfen. Dafür hängt seinem Namen an, der ewige Zweifler und ungläubig zu sein. Aber ich, ich finde das wunderbar. Um es klar zu sagen, ich bin erstmal bei Thomas und nicht bei Jesus.
Denn wer verlangt, dass man glauben soll, was man wissen kann, öffnet Fake News, Populisten und Verschwörungserzählungen Tor und Tür. Das erleben wir ja dieser Tage, wo Präsidenten an der Macht sind, die sich für Wahrheit und Fakten kaum interessieren. Denen sollen wir auch alles glauben, ohne dass sie den geringsten Beweis vorbringen können. Fakten werden frech ignoriert und die Wahrheit zählt nicht mehr. Dabei kann jeder bald alles behaupten. Seriöse Medien werden verunglimpft und ihre Arbeit behindert. Journalisten sind plötzlich das letzte Pack, werden bespuckt und getreten.
Nach heutigen Maßstäben wäre Thomas der Journalist in der Runde der Jüngerinnen und Jünger. In katholischer Tradition ist Thomas der Schutzheilige der Architekten und Bauarbeiter. Für mich wäre Thomas in erster Linie der Schutzheilige der Nachrichten-Redaktionen.
Thomas wollte wissen, ob Jesus wirklich auferstanden ist. Und ob der Auferstandene auch wirklich der Jesus ist, der am Kreuz gestorben ist. Deshalb will Thomas die von Nägeln durchstoßenen Handwurzeln nicht nur sehen, sondern auch fühlen, seine Finger in die Wunden legen. So zeigt Thomas, wie Faktenchecken geht. Er will die Fakten doppelt prüfen. Nur Sehen genügt ihm nicht. Er will es betasten. Erst dann weiß er, dass es keine optische Täuschung und kein Trick ist.
Wie Recht er doch damals schon hatte, obwohl er von unseren heutigen Schwierigkeiten mit Fake News, Deep Fakes und KI generierten Filmen und Fotos noch gar nichts wissen konnte. Diese Fälschungen zu erkennen und offenzulegen wird immer schwieriger.
Thomas war vor 2000 Jahren schon den entscheidenden Schritt weiter. Nicht nur einem Sinn, einer Quelle vertrauen, sondern sich so umfassend wie möglich ein Bild machen. Damit würde ich Thomas auch noch als Schutzheiligen der Kriminalkommissare, der Rechtsmediziner und Faktenchecker vorschlagen.
Immer weniger heißen heute "Thomas". Aber was wir dringend brauchen, sind nicht weniger, sondern mehr Thomasse. Und damit meine ich nicht den Namen, sondern die Haltung: sein Bemühen um Wahrheit, Vernunft und Glaube. Wenn die weiterbestehen sollen, muss jede und jeder von uns mindestens ein bisschen Thomas sein.
Jesus sagt: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." Warum aber sollte Thomas glauben, was er überprüfen konnte? Jesus meint etwas anderes. Und in dieser Hinsicht stimmt sein Satz: Es gibt wesentliche Dinge, die man nicht wissen und beweisen kann. Dinge, die man nur glaubend erfahren kann. Und "glaubend erfahren" heißt, ihnen vertrauen, sich auf sie einlassen.
Man kann nicht beweisen, ob es Gott gibt oder nicht. Man kann nicht beweisen, ob sich zwei Menschen lieben. Nicht mal innerhalb der Beziehung kann man es beweisen. Und niemand kann heute beweisen, dass Jesus auferstanden ist. Jesus erscheint nicht mehr. Niemand kann mehr die Finger in seine Wunden legen. Und doch kann ich den Auferstandenen erfahren, wenn ich mich auf ihn einlasse. Ihm vertraue. Glaube. Handfeste Beweise habe ich dann keine, brauche ich auch nicht. Ein erfülltes Herz reicht mir.
Man kann und soll nicht an den Fakten vorbeigehen. Wer aber meint, man könne nur das glauben, was man sieht, hat vom Leben noch nicht viel verstanden. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Geliebt zu werden und jemanden zu lieben, ist die schönste Erfahrung, die man im Leben machen kann.
Diese und andere wesentliche Dinge kann man nicht durch ewiges Bezweifeln erfahren, man muss sich auf sie einlassen. Und dann die Erfahrung machen, dass sie wahr sind. Insofern ist der Satz Jesu richtig: "Selig, die nicht sehen und doch glauben".
In der Bibel hat Thomas nach starken Sätzen von Jesus gern nachgefragt. Ich stelle mir vor, er hat das auch bei diesem getan. Und dann hätte Jesus gesagt: Ich meine:
- Selig sind, die nicht glauben, was man wissen kann!
- Selig sind, die glauben, was man nicht wissen kann!
- Selig sind, die das eine vom anderen unterscheiden können!
Zum Autor:
Dr. Thomas Dörken-Kucharz ist evangelischer Pfarrer und "Chef vom Dienst" der Rundfunkarbeit im Gemeinschaftswerk Evangelischer Publizistik (GEP) in Frankfurt am Main. Er ist Beauftragter für Social Media, funk, RTL sowie Programm-Geschäftsführer des Robert Geisendörfer Preises. Schon zuvor war er im GEP seit 1999 als Referent für Hörfunk und Fernsehen und später als ARD-Beauftragter tätig.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.