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PolitikEuropa

"Verhandlungen nach Russlands Niederlage"

Anna Fil
2. August 2022

Mychajlo Podoljak ist Berater im ukrainischen Präsidialamt. Im DW-Interview verteidigt er die Personalpolitik Präsident Selenskyjs und erklärt, wie die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen kann.

Mychailo Podoljak am Schreibtisch in seinem Büro
Mychailo Podoljak während des Interviews mit der DW Bild: Anna Fil/DW

DW: Herr Podoljak, vor mehr als fünf Monaten hat der russische Angriff auf die Ukraine begonnen. Spüren Sie Kriegsmüdigkeit bei sich persönlich, in der Gesellschaft, beim Militär? 

Mychajlo Podoljak: Es ist nicht richtig, von Müdigkeit zu sprechen. Es ist Krieg, und es darf keine Ermüdung geben. Das grundlegende Ziel Russlands ist die Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit. Dieses große Ziel ist gescheitert. Daher gibt es ein weiteres Ziel - und zwar, möglichst viele Gebiete der Ukraine zu erobern und zu zerstören.

Die Ermüdung ist eher eine mediale Illusion, über die Journalisten sprechen. Unsere Gesellschaft wird definitiv bis zum Ende gehen (und alles für einen Sieg tun - Anm. d. Red.), weil ihr die Folgen einer Niederlage bewusst sind. Die europäische Öffentlichkeit wird ganz sicher bis zum Ende dabei sein, denn sie versteht zunehmend die Risiken, sollte Russland in seiner jetzigen Form so bleiben - als ein aggressiver, expansionistischer, chauvinistischer Staat. 

"Russland ist nicht Europa"

Allerdings befürchtet die europäische Öffentlichkeit einen kalten Winter für den Fall, dass die Gaslieferungen aus Russland eingestellt werden.

Der europäischen Öffentlichkeit sind alle Risiken bewusst, die Krieg mit sich bringt. Aber sie lehnt das Energiemonopol Russlands ab. Das heißt, sie zeigt Verständnis dafür, dass Russland kein Partner sein kann. Um diese Energieabhängigkeit zu beenden, müssen bestimmte Schwierigkeiten überwunden werden und Europa ist bereit, dies zu tun.

Die Abkehr von russischem Erdgas ist für viele europäische Staaten ein kostspieliges Unterfangen

Es ist zu diesem Krieg gekommen, weil Russland 2008 nicht bestraft wurde, als es in das souveräne Georgien einmarschierte und einen Teil von dessen Territorium eroberte. Russland wurde auch nicht bestraft, als es 2014 die Krim annektierte und einen Teil der Regionen Donezk und Luhansk eroberte. Damals hätte man prinzipientreuer sein müssen und das Konzept aufgeben müssen, wonach Russland Teil Europas ist. Russland ist nicht Europa. Heute versteht die Welt das dank der Ukraine, die dafür einen hohen Preis zahlt. 

Lassen Sie uns über eines der jüngsten Ereignisse in der Ukraine sprechen, die Entlassung von Iryna Wenediktowa vom Posten der Generalstaatsanwältin und von Iwan Bakanow vom Posten des Leiters des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU). Warum kam es gerade jetzt zu dieser Entscheidung?

Ich sehe in den Entlassungen kein Problem. Für uns ist die Staatsanwaltschaft wichtig, um alle von Russland in der Ukraine begangenen Verbrechen zu dokumentieren. Das ist eine sehr große Aufgabe, die möglichst effektiv erledigt werden muss und nicht zur Show verkommen darf, sondern zu internationalen Gerichtsprozessen führen soll. Im SBU gab es Wechsel an der Spitze und in den Regionen, weil die geheimdienstliche Arbeit aggressiver geführt werden muss. Es geht um die Verhinderung von Separatismus. In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Wechsel des einen oder anderen Managers keine Verschwörung, es ist gerade der Versuch, effektivere Führungskräfte zu finden. 

HIMARS haben Kämpfe "erheblich verändert"

Vor wenigen Wochen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Gegenoffensive im Süden des Landes angekündigt. Aus welchen Gründen könnte das Erfolg haben? 

Einzelheiten dazu können nur der Generalstab und der Oberste Befehlshaber geben. Ich kann mich nicht dazu äußern, wann und wie eine Offensive oder Gegenoffensive stattfinden wird. Natürlich wird es sie mit Sicherheit geben. Schließlich kann man die Gebiete nicht einfach Russland überlassen.

Das heißt, die Gegenoffensive hat noch nicht begonnen?

Sie läuft schon die ganze Zeit. Die russischen Streitkräfte zahlen einen sehr hohen Preis für einen Kilometer Vormarsch durch ukrainisches Gebiet. Das ist sehr gut, weil es die russische Armee zermürbt.

Das LKW-basierte US-Raketensystem HIMARS (Archivbild)Bild: Tony Overman/AP/picture alliance

Gleichzeitig haben wir HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System, US-amerikanische Mehrfachraketenwerfer, Anm. d. Red.) erhalten, die das Bild der Kämpfe im Vergleich zu den ersten zwei Monaten erheblich verändert haben. Die russische Artillerie traf viele unserer Stellungen, weil sie noch eine intakte Logistikkette hatte. Die russische Artillerie gab pro Tag bis zu 50.000 Schuss ab. Der Beschuss hat sich auf ein Fünftel oder Sechstel verringert, seit die HIMARS eingesetzt werden, die Logistikzentren und Munitionsdepots zerstören können. Wenn die Möglichkeiten unserer Langstrecken-Artillerie, einschließlich der Raketenwerfer, verbessert werden, wird Russland unser Territorium schneller verlassen.

Ein konkretes Beispiel für einen solchen "guten Willen" haben wir auf der Schlangeninsel gesehen. (Als "Zeichen des guten Willens" hatten die russischen Streitkräfte nach ukrainischen Angriffen ihren Rückzug von der Schlangeninsel im Schwarzen Meer bezeichnet, Anm. d. R.) Ein weiteres Beispiel könnte schon bald die legendäre Antoniwka-Brücke in der Region Cherson werden. Sobald sie nicht mehr befahrbar ist, wird Russland wieder eine "Geste des guten Willens" zeigen und Cherson verlassen. 

Wenn sich die Kräfteverhältnisse so stark verändern, sehen Sie dann auch einen Grund, über die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit Russland zu sprechen? 

Nein, es gibt keinen Grund. Russland lebt in einer anderen Welt, in der Scheinwelt eines großen Landes. In Wirklichkeit ist Russland ein kleines, nichtsnutziges Land mit einem geringen intellektuellen Potential. Es hat nur Atomwaffen, eine riesige Anzahl konventioneller Waffen und Energieträger. Sie kennen nur die Sprache von Ultimaten. Sie führen keine Verhandlungen, wie es in der Diplomatie üblich ist. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagt, dass sich die Ziele der sogenannten "Militäroperation" geändert hätten. Angeblich beanspruchen sie jetzt nicht nur die sogenannten "Volksrepubliken", sondern auch weitere Territorien der Ukraine. 

"Russland müssen militärische Niederlagen bereitet werden"

Und unter welchen Bedingungen sind dann Verhandlungen möglich? 

Starke taktische Siege der ukrainischen Armee in südlicher und östlicher Richtung. Das sind Cherson, Berdjansk, der Zugang zum Asowschen Meer, die Rückeroberung von Mariupol. Es geht nicht nur um einen taktischen Rückzug der russischen Armee, sondern um die Vernichtung eines Maximums an Kräften und Ausrüstung. Damit sich die Gesellschaft in Russland fragt: "Wofür wird ein solcher Preis an Menschen gezahlt?" Deshalb muss Russland eine militärische Niederlage bereitet werden, bevor wir uns an den Verhandlungstisch setzen. 

Das Interview wurde am 21. Juli von Anna Fil auf Ukrainisch geführt und in einer ausführlicheren Version auf Ukrainisch und Russisch veröffentlicht.

Aus dem Ukrainischen adaptiert von Markian Ostaptschuk.

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