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Politik

Selenskyj in USA: Bidens freundliche Distanz

Roman Goncharenko | Maksym Drabok
1. September 2021

Der ukrainische Präsident Selenskyj musste lange auf seinen ersten Besuch in Washington warten. Vor seinem Treffen mit Biden ist Kiews Wunschliste lang, manche sagen: zu lang. Trotzdem darf Kiew hoffen.

Joe Biden (links) und Wolodymyr Selenskyj
Joe Biden und Wolodymyr Selenskyj

Wegen des US-Abzugs aus Afghanistan wurde das Treffen in Washington kurzfristig um einen Tag verschoben - wieder einmal. Nun empfängt US-Präsident Joe Biden seinen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj an diesem Mittwoch im Weißen Haus. Der ukrainische Präsident musste ungewöhnlich lange darauf warten. Für ihn ist es die erste Reise nach Washington seit seinem Amtsantritt im Jahr 2019.

Während sich Selenskyj lautstark um ein Treffen bemüht hatte, reagierte Biden kühl. So musste der ukrainische Staatschef zunächst zwei Monate auf ein Telefonat mit dem neuen Chef im Weißen Haus warten. Später wünschte sich Selenskyj, dass sich Biden mit ihm trifft, bevor er mit Russlands Präsident Wladimir Putin zusammenkommt. Washington ging darauf nicht ein. Einige Experten im Westen beschrieben Bidens Haltung als benign neglect, als freundliche Zurückhaltung. Kiew solle eigenständig handeln und Reformen vorantreiben, so die Botschaft.  

Bidens Zurückhaltung überraschte Kiew

Die Ukraine war von der Zurückhaltung des neuen US-Präsidenten sichtlich überrascht. Schließlich kennt Biden die Ukraine besser als seine Vorgänger, er war dort als Vizepräsident oft zu Besuch und hielt sogar eine Rede im Parlament. In Kiewer Fachkreisen rätselt man über mögliche Hintergründe. Eine Erklärung lautet, dass Biden mit Kiews Kampf gegen Oligarchen unzufrieden war. Unter der neuen Administration verhängten die USA Sanktionen gegen den ukrainischen Geschäftsmann Ihor Kolomojskyj, einen früheren Geschäftspartner Selenskyjs. Washington wirft Kolomojskyj Korruption vor. Im Juni legte Selenskyj dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der den Einfluss von Oligarchen einschränken soll.

Biden spricht im Dezember 2015 im ukrainischen ParlamentBild: Reuters/V. Ogirenko

Olexandr Krajew von der Kiewer Denkfabrik "Ukrajinska Prisma" erklärt Bidens Zurückhaltung damit, dass die USA in Kiew "eine gemeinsame Wahrnehmung von bestimmten Herausforderungen" vermissen. "Die USA haben bereits viel getan, etwa die finanziellen Hilfen ausgeweitet und spezielle Beratungen durchgeführt", sagt Krajew. Außerdem habe Biden sein politisches Kapital eingesetzt, als er im April Putin angerufen und den russischen Truppenaufbau an der ukrainische Grenze gestoppt habe. Nun erwarte Washington, dass Kiew "seine Verpflichtungen erfülle, etwa Pläne für weitere Reformen bekannt gibt oder Ergebnisse im Kampf gegen Oligarchen vorzeigt". Auch die als korrupt geltende ukrainische Justiz müsse sich beweisen, so Krajew.

Ähnlich argumentiert auch Max Bergmann, Experte am Center for American Progress in Washington: "Ich denke, dass es unter der Biden-Administration keinen Freibrief geben wird. Sie wird von der ukrainischen Regierung verlangen, die Korruption zu beseitigen." Er nennt den Besuch von Selenskyj "längst überfällig" und geht davon aus, dass die USA ihr Bekenntnis zur Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine bekräftigen würden.  

Experte: Zu hohe Erwartungen in Kiew 

Vor Selenskyjs Besuch schwankten die Erwartungen in Kiew zwischen dem Wunsch, Unterstützung in Schlüsselfragen zu bekommen, und der Freude, dass er überhaupt stattfindet. Die Erwartungen seien zu hoch, sagt Olexandr Krajew.

Russisches Verlegeschiff in der OstseeBild: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/picture alliance

Für den ukrainischen Präsidenten dürfte die jüngste Vereinbarung zwischen Deutschland und USA zu der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 ganz oben auf der Agenda stehen. Kiew sieht darin eine Gefahr für die eigene Sicherheit. Der Bau könnte ausgerechnet während Selenskyjs US-Besuch vollendet werden. Der ukrainische Präsident hatte die Fertigstellung von Nord Stream 2 in der Vergangenheit als eine "Niederlage" für Biden bezeichnet und sich überrascht gezeigt, von dem Deal zwischen Berlin und Washington aus der Presse erfahren zu haben. Selenskyj möchte nun von Biden hören, was genau passieren würde, sollte Russland die Pipeline als "Waffe" verwenden und den Gastransit über die Ukraine beenden.

Nicht weniger wichtig für Kiew ist auch die Rolle der USA bei der Lösung des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine. Selenskyj hofft, Biden zur Beteiligung am sogenannten Normandie-Format zu bewegen. Darin versuchen Russland und die Ukraine unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs seit 2014, eine Lösung zu finden. Washington reagierte bisher zurückhaltend auf Kiews Appelle, sich stärker zu engagieren. Olexandr Krajew glaubt nicht daran, dass sich Biden überzeugen lässt. Der Kiewer Experte hält bilaterale Ansätze für realistischer. So könne Washington wieder einen Ukraine-Beauftragten ernennen. Dieser Posten ist seit dem Rücktritt von Kurt Volker vakant. 

Profitiert die Ukraine vom US-Abzug aus Afghanistan? 

Michael McFaul, Dozent an der Stanford-Universität und ehemaliger US-Botschafter in Russland, plädierte in einem Kommentar in der Washington Post dagegen für eine formelle Beteiligung der USA an Normandie-Verhandlungen. Im Gegenzug solle Selenskyj "für eine Zeit lang aufhören, um die Unterzeichnung des NATO Membership Action Plans (MAP) zu bitten". Die "bittere Realität" bestehe darin, dass die Ukraine heute nicht in der Lage sei, der NATO beizutreten. Vor seinem Besuch in Washington sagte Selenskyj mehrmals, er wolle von Biden eine klare Antwort auf diese Frage hören. MAP dient dazu, Länder auf einen Beitritt vorzubereiten. Russland hat mehrfach signalisiert, dass es eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als rote Linie betrachtet.

Olexandr Krajew glaubt, dass vor dem Hintergrund der Lage in Afghanistan Bidens Interesse an Erfolgen in der Ukraine gestiegen sein durfte. Ähnlich argumentiert auch McFaul. Sollte "das ukrainische Demokratie-Experiment wackeln" gebe es "wenig Hoffnung" für Bidens Ansatz, Demokratie weltweit zu stärken. Vor diesem Hintergrund könnte sich Selenskyj doch Hoffnungen in Washington machen, auch wenn nicht alle seine Wünsche erfüllt werden dürften.