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Selenskyj: Neue Rakete der Ukraine trifft tief in Russland

24. März 2025

Die Ukraine verfügt laut Präsident Wolodymyr Selenskyj über eine neue eigene Rakete, mit der Ziele auch weit in Russland getroffen werden können. Kann die "Lange Neptun" westliche Raketen ersetzen?

Zwei Neptun-Raketensysteme R-360 der ukrainischen Streitkräfte auf einer Straße in Kyjiw
Neptun-Raketensysteme R-360 der ukrainischen Streitkräfte: Können sie westliche Waffen ersetzen? Bild: Depositphotos/IMAGO

Der "Lange Neptun" habe alle Tests und seinen Einsatz im Kampf erfolgreich bestanden, erklärte jüngst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. "Es ist eine neue ukrainische Rakete, ein präziser Schlag. Die Reichweite beträgt eintausend Kilometer. Vielen Dank an unsere ukrainischen Entwickler, Hersteller und das Militär", schrieb er auf Telegram. Nähere Angaben zur Rakete und ihrem Angriffsziel machte Selenskyj nicht.

OSINT-Analysten, die öffentlich zugängliche Informationen sammeln, und Medien berichteten, die Ukraine habe mit der Rakete die Ölraffinerie im russischen Tuapse am Schwarzen Meer getroffen, etwa 550 Kilometer von der Kampflinie entfernt. In der Raffinerie hatte es nach Angaben der regionalen russischen Behörden am Wochenende gebrannt. Von der DW befragte Experten gehen davon aus, dass bei dem Angriff eine Weiterentwicklung der Anti-Schiffs-Rakete Neptun R-360 eingesetzt wurde. 

Ukraine arbeitet an Neptun-Modifikationen

Der Marschflugkörper R-360, entwickelt vom Konstruktionsbüro "Lutsch" in Kyjiw, wird seit 2020 von den ukrainischen Streitkräften genutzt. Zusammen mit dem RK-360MC-System schützt er die Küste, indem er feindliche Schiffe erkennt und zerstört. Die Rakete verfügt über einen 150 Kilogramm schweren Sprengkopf und eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern.

Ihr erster Kampfeinsatz erfolgte im April 2022 gegen Russlands Fregatte "Admiral Essen". Kurz darauf kam es zu dem wohl bedeutendsten Ereignis im russisch-ukrainischen Krieg, als zwei dieser Anti-Schiffs-Raketen den russischen Kreuzer "Moskwa" im Wert von etwa 750 Millionen Dollar versenkten.

Testflug einer neuen Neptun-Rakete im Jahr 2018Bild: National Security and Defense Council Press Service Pool Photo/AP/picture alliance

Dabei beließen es die ukrainischen Konstrukteure aber nicht und stellten im Jahr 2023 eine weitere Modifikation der R-360 vor. Sie kann neben Schiffen auch Landziele treffen. Wie ein anonymer Vertreter des ukrainischen Verteidigungsministeriums dem amerikanischen Portal "The War Zone" sagte, hat sie eine Reichweite von 400 Kilometern und kann einen Sprengkopf mit einem Gewicht von 350 Kilogramm tragen, also 200 Kilogramm mehr als eine Anti-Schiffs-Rakete.

Diese Rakete wurde vom ukrainischen Militär bereits mehrfach eingesetzt, unter anderem im September 2023 gegen ein russisches Flugabwehrsystem S-400 und den Flugplatz Saky auf der besetzten Krim. Ukrainische Ingenieure haben nun wohl eine neue Version des Neptun-Raketensystems entwickelt, wie die von der DW befragten Experten vermuten.  Die Rakete soll bis zu tausend Kilometer weit fliegen.

Wie steht es um eine Serienproduktion?

Der Militärexperte des Kyjiwer Rasumkow-Forschungszentrums, Mykola Sunhurowskyj, sagt im DW-Gespräch, es komme nun darauf an, ob die Rakete in Serie produziert werden könne. Denn die Waffe mache nur Sinn, wenn sie in großen Mengen eingesetzt wird. "Ich hoffe, dass wir durch eine Kombination der technologischen, produktionstechnischen und finanziellen Ressourcen der Ukraine und ihrer westlichen Partner die Herstellung hochfahren können. Aber es stellt sich die Frage nach dem Standort der Produktionsanlagen, weil das gesamte Territorium der Ukraine beschossen wird", so der Experte.

Auch Serhij Shurez vom ukrainischen Beratungsunternehmens Defense Express hält eine Serienproduktion für wichtig. Ihm zufolge sollte die Ukraine 40 bis 50 Raketen pro Monat produzieren, so viele wie Russland. "Ein solches Tempo müssen wir schaffen", sagt er und fügt hinzu, dass hinter der Neptun-Rakete im Unterschied zu anderen Typen ein Team erfahrener Konstrukteure stehe. "Beispielsweise wird seit 15 bis 20 Jahren über die ballistische Rakete Sapsan gesprochen, aber es gibt sie immer noch nicht", so der Experte.

Kann Kyjiw auf westliche Raketen verzichten?

Vor dem "Langen Neptun" waren die vom Westen an Kyjiw gelieferten Raketen vom Typ ATACMS sowie Storm-Shadow (SCALP) die weitreichendsten Waffen, die die Ukraine bislang gegen Russland einsetzen konnte. Laut offen zugänglichen Quellen haben sie eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern.

Medienberichten zufolge sind die ukrainischen Vorräte an amerikanischen ballistischen ATACMS-Raketen aber schon seit Januar 2025 aufgebraucht. Bislang gibt es keine Informationen darüber, ob weitere Lieferungen aus den USA erfolgen. Kyjiw hat ebenfalls nur wenige Storm-Shadow-Raketen.

Ein Storm-Shadow-Marschflugkörper auf einer Messe im britischen Farnborough im Jahr 2024Bild: Malcolm Park/Avalon/picture alliance

Daher bewerten die Experten es als positiv, dass die Ukraine nun über eine eigene Langstreckenrakete verfügt. Allerdings glauben sie, dass sie die westlichen Waffen nicht vollständig ersetzen kann. "Aufgrund des Bedarfs der ukrainischen Streitkräfte an Raketen geht es nicht darum, westliche Raketen zu ersetzen. Es geht um eine Ergänzung zu der westlichen Hilfe", so Mykola Sunhurowskyj.

Serhij Shurez weist darauf hin, dass nach wie vor Bedarf an Raketen bestehe, die Kyjiw noch gar nicht erhalten habe, insbesondere an deutschen Taurus-Marschflugkörpern. "Ein Taurus schafft bis zu 600 Kilometer, der Sprengkopf wiegt 450 Kilogramm. Seine Reichweite ist zwar geringer als die des 'Langen Neptuns', aber ein Taurus hat einen einzigartigen durchdringenden Sprengkopf, der speziell zur Zerstörung tiefer Bunker geeignet ist. Ein Taurus zeichnet sich durch seine technologische Raffinesse aus und ist die fortschrittlichste Rakete überhaupt", so der Experte.

Welche Ziele kann die Ukraine ins Visier nehmen?

Russland reagiere auf die Reichweite der ukrainischen Waffen und verlege daher potenzielle Ziele tiefer in sein Territorium hinein - wie Flugzeuge und bestimmte Produktionsanlagen, erläutert Mykola Sunhurowskyj. "Aber eine Ölraffinerie kann man nicht abtransportieren", sagt er. Dank dem "Langen Neptun" rückten viele Ziele in Russland für die Ukraine in greifbare Nähe.

Ziele in Entfernungen von über 300 Kilometern konnte die Ukraine bisher nur mit Drohnen erreichen. Die in der Ukraine entwickelte Kampfdrohne des Typs "Ljutyj" fliegt tausend Kilometer weit und die Drohne "Ninja" stellte einen Rekord auf, als mit ihr in Russland ein Werk des Chemieunternehmens "Gazprom Neftekhim Salavat" in 1.500 Kilometern Entfernung getroffen wurde. Darüber berichteten ukrainische Medien unter Berufung auf Quellen im Geheimdienst.

"Man wird auch weiterhin mit Drohnen angreifen, aber sie können nur wenig Sprengstoff tragen - bis zu 50 Kilogramm. Damit kann man kein befestigtes Objekt durchdringen, auch nicht mit mehreren Drohnen gleichzeitig", erläuterte der ukrainische Major der Reserve, Oleksij Hetman, Veteran des russisch-ukrainischen Krieges, im Radiosender "NV". Er geht davon aus, dass ein "Langer Neptun" bis zu 300 Kilogramm Sprengstoff tragen kann. Damit könnte er auch Gebäude zerstören. 

Mehr als 300 Kilometern entfernt gebe es zahlreiche russische logistische Einrichtungen und vor allem Industrieanlagen, die zerstört werden müssten, um einen echten Abnutzungskrieg zu führen, sagt Serhij Shurez. "Genau das versucht Russland in der Ukraine", sagt er. Der Experte betont, dass die Ukraine mit der neuesten Neptun-Modifikation Raffinerien, Kommandoposten und Munitionsdepots in Russland treffen könne, ohne auf Hilfe der USA oder anderer Länder hoffen zu müssen.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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