Kaum im Amt löste der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Parlament auf. Ob es dazu kommt, ist noch unklar. Der neue Staatschef hat gute Chancen, seine Macht auszubauen.
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Wolodymyr Selenskyj hat es sehr eilig. Bereits wenige Minuten nachdem der neue Präsident der Ukraine am Montagmorgen im Plenarsaal der Werchowna Rada sein Amtseid geschworen und Insignien der Macht, darunter eine Kosaken-Keule, erhalten hatte, verkündete er die Auflösung des Parlaments. Auch die Regierung solle "Platz machen", sagte der 41-jährige politische Neuling und frühere Fernsehkomiker, der bei der Präsidentenwahl im April mit 73 Prozent der Stimmen den Amtsinhaber Petro Poroschenko geschlagen hatte.
Die Eile hat damit zu tun, dass der neue Präsident nur Zeit bis zum 27. Mai hat, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Danach greift eine Art Schonfrist, die das Parlament sechs Monate im Vorfeld einer regulären Wahl vor Auslösung schützt. Die nächste Parlamentswahl in der Ukraine ist für Ende Oktober geplant, doch nun könnte sie bereits in zwei Monaten, im Juli stattfinden.
Präsident ohne Parlamentsmehrheit
In seiner Antrittsrede - wie auch schon zuvor in seinen Videobotschaften - stellte sich Selenskyj in sozialen Netzwerken als Rächer im Namen des Volkes dar. Mit seiner Wortwahl erinnert er an den Titelheld der beliebten TV-Comedyserie "Diener des Volkes", in der Selenskyj einen zufällig zum Präsidenten gewählten Schullehrer spielt. Der neue Präsident machte klar, dass er auf Konfrontation mit Parlament setzt, das bei vielen Ukrainern sehr unbeliebt ist.
Überraschend war die Parlamentsauflösung jedenfalls nicht. Seit Monaten wurde darüber spekuliert, dass Selenskyj nach seinem historisch hohen Sieg die Gunst der Stunde nutzen möchte, um seine eigene Partei mit einer möglichst großen Zahl an Abgeordneten ins Parlament zu bringen. Ohne eine eigene Partei im Parlament sind Selenskyj in vielen Fragen die Hände gebunden, denn das eigentliche Machtzentrum ist laut Verfassung die Regierung. Der Präsident darf nur einzelne Minister ernennen, darunter den Außen- und den Verteidigungsminister.
Umfragen sehen die bisher kaum bekannte Partei von Selenskyj, die er nach seiner TV-Serie "Diener des Volkes" benannt hatte, mit rund 30 Prozent oder sogar mehr mit großem Abstand vor anderen Parteien. Ob solche Beliebtheitswerte bis zur regulären Parlamentswahl im Herbst halten, ist allerdings fraglich. Darin dürfte der wahre Grund von Selenskyjs Entscheidung liegen, das Parlament aufzulösen, schätzen Beobachter.
Juristisches Kräftemessen um Neuwahlen?
Ob es tatsächlich zu Neuwahlen kommt, dürfte sich in den kommenden Tagen entscheiden. Denn am vergangen Freitag versuchte "Volksfront", die regierende Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, eben dieses Szenario zu durchkreuzen. Sie verkündete ihren formellen Austritt aus der Koalition mit dem "Petro Poroschenko Block". Das Parlament hat nun 30 Tage Zeit, eine neue Koalition zu bilden. Erst nach dem Scheitern der Gespräche dürfte der neue Präsident das Parlament auflösen - so weit die Theorie. Doch dann wäre es für eine Auflösung wegen der Schonfrist zu spät.
Selenskyj dagegen argumentiert, dass die Koalition im Parlament bereits seit drei Jahren nicht mehr existiere. In der Tat zerfiel die 2014 gegründete Koalition mit dem Namen "Europäische Ukraine" im Februar 2016.
Damals wechselten drei Parteien in die Opposition, darunter die "Vaterlandspartei" der früheren Regierungschefin Julia Tymoschenko. Geblieben war eine Allianz von "Volksfront" und "Poroschenkos Block", die sich mit Hilfe von fraktionslosen Abgeordneten wechselnde Mehrheiten verschafft hat. Es ist jedoch nicht bekannt, welche Abgeordneten namentlich diese Koalition bilden. Vor diesem Hintergrund sei eine juristische Grundlage für Selenskyj Vorgang bereits vorhanden, berichten ukrainische Medien.
Gefahr einer politischen Lähmung
Ob es im ukrainischen Parlament bis zum vergangenen Freitag eine Koalition gab oder sie bereits früher zerbrach - diese Frage dürfte bald Gerichte beschäftigen und am Ende vor dem Verfassungsgericht landen. Dort gab es erst vor wenigen Tagen einen Wechsel an der Spitze: Der Vorsitzende Richter wurde am 14. Mai durch ein Misstrauensvotum von seinen Kollegen abgesetzt. Ob es einen Zusammenhang mit der Parlamentsauflösung gibt, bleibt eine Spekulation.
Sollte es zu einem Machtkampf zwischen Präsident und Parlament um Neuwahlen kommen, dürfte das die ohnehin politisch und wirtschaftlich lange geschwächte Ukraine zusätzlich lähmen.
Szenenwechsel: 10 Künstler, die Politik mach(t)en
Sie machen Witze, singen, spielen Helden und Rächer. Dann wechseln sie in die Politik. Zur Amtseinführung des neuen ukrainischen Präsidenten Selenskyj ein Blick auf die berühmtesten Quereinsteiger aus dem Showbizz.
Bild: Imago Images/A. Gusev
Aus Fiktion wird Wirklichkeit
Bis vor kurzem stand Wolodymyr Selenskyj noch witzelnd auf der Bühne oder vor der Kamera: unter anderem für die erfolgreiche TV-Serie "Diener des Volkes", in der er einen Geschichtslehrer mimt, der als Politikneuling durchstartet. Mit der Wahl zum ukrainischen Präsidenten wird das jetzt auch Selenskyjs Realität. Schon zahlreiche Promis vor ihm haben diesen Bühnenwechsel ebenfalls vollzogen.
Bild: Imago Images/A. Gusev
Vom Terminator zum Governator
Er gehört zweifelsohne zu den berühmtesten Quereinsteigern: Arnold Schwarzenegger - zunächst Bodybuilder und Schauspieler und schließlich kalifornischer Gouverneur (2003-2011). Anfangs fuhr er einen rigoros republikanischen Kurs, später verschärfte er die Waffengesetze und hob den Mindestlohn an. Bis heute mischt er sich ein, indem er vor allem zum Kampf gegen den Klimawandel aufruft.
Bild: picture alliance/Mary Evans Picture Library
Aus dem Kampfring in die Politarena
Schwarzeneggers Filmkollege Jesse Ventura - hier in "Predator" (1987) - tobte sich zeitweise ebenfalls jenseits von Leinwand und Wrestling-Ring aus. Zuerst war er Bürgermeister in Brooklyn Park, Minnesota, dann sogar für eine Amtszeit Gouverneur des Bundesstaats. Danach widmete er sich in der vielfach kritisierten Fernsehsendung "Conspiracy Theory" (Verschwörungstheorie) bedeutenden Ereignissen.
Bild: picture-alliance/Everett Collection/20th Century Fox Film
"Make America great again"
Durch die Schauspielerei machte Ronald Reagan früh erste Gehversuche in der Politik: Ab 1941 engagierte er sich gewerkschaftlich bei Warner Bros. und wurde Präsident der Gewerkschaft der Filmschaffenden. Später wurde er Republikaner, regierte zunächst in Kalifornien und zog 1981 dann ins Weiße Haus ein. Seinen Wahlslogan "Make America great again" machte sich später Donald Trump zu eigen.
Bild: imago/United Archives
Kurzes Intermezzo
Clint Eastwoods Politkarriere begann ebenfalls in Kalifornien: als Bürgermeister seiner Heimatstadt Carmel. Allerdings hielt es der Schauspieler und Regisseur nur zwei Jahre in dem Amt aus, da ihm das Tempo in der Branche zu langsam war. Ganz raus hielt er sich danach aber nicht: Als Mitglied der Republikaner trat er auf ihrem Parteitag auf und sprach sich 2016 für die Wahl Donald Trumps aus.
Bild: Imago
Eine Frau vom Fach
Schon Melina Mercouris Vater und Großvater bekleideten als griechischer Innenminister und Bürgermeister von Athen wichtige Ämter - ihr Schritt in die Politik: geradezu naheliegend. So machte die erfolgreiche Schauspielerin und Chansonsängerin ab 1967 nicht nur gegen das faschistische Regime mobil, sondern prägte später auch über viele Jahre das Amt der griechischen Kulturministerin.
Bild: picture-alliance/Everett Collection
Botschafter am Zufluchtsort
1973 zwang der Militärputsch in Chile Schriftsteller Antonio Skármeta zur Flucht über Argentinien nach Berlin. Das Leben im Exil, das Fremdsein wurden zu Lebensthemen in seinen Schriften. Nach 16 Jahren kehrte Skármeta in seine Heimat zurück, lebte aber von 2000 bis 2003 noch einmal in der deutschen Hauptstadt - diesmal als Botschafter der Republik Chile.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Burgi
Vielseitig erfolgreich
Bei Glenda Jackson waren es die Thatcherjahre, die die zweifache Oscargewinnerin (hier in "Women in Love", 1969) animierten, in die Politik zu gehen. 1992 zog sie für die Labour-Partei ins britische Unterhaus ein und machte dort vier Legislaturperioden Politik. Während des Irakkriegs galt sie als eine der schärfsten Kritikerinnen von Tony Blair. Mit 79 kehrte sie der Politik den Rücken.
Bild: picture-alliance/Everett Collection
Vinod Khanna - Politik statt Bollywood-Glamour
In den 1970er Jahren war Vinod Khanna (hier 1977 in "Amar Akbar Anthony") einer der erfolgreichsten Schauspieler Indiens. Doch auf dem Höhepunkt seiner Karriere zog er sich aus dem Filmbusiness zurück. Nach einigen Jahren beim Guru Osho schaffte er es ins indische Parlament und wurde später Minister für Tourismus und Kultur sowie Staatsminister im Außenministerium. Khanna starb 2017.
Bild: Imago Images/Prod.DB
Ein singender Präsident
Von 2011 bis 2016 stand Michel Martelly an der Spitze des Inselstaates Haiti und hatte keine geringere Aufgabe als den Wiederaufbau des Landes nach dem verheerenden Erdbeben von 2010. In seiner ersten Karriere stand er als Sänger auf der Bühne und unterhielt das Publikum als "Sweet Micky" mit Kompa, einer Form haitianischer Volksmusik.