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Politik

Eine Hoffnung, aus Wut geboren

Roman Goncharenko mo
22. April 2019

Der Schauspieler Wolodymyr Selenskyj hat in der Stichwahl um die Präsidentschaft in der Ukraine ein Rekordergebnis erzielt. Warum glauben ihm die Menschen und was hat das Land nun zu erwarten?

Ukrainischer Wahlzettel mit Stimme für Wolodymyr Selenskyj
Bild: picture-alliance/dpa

Die Präsidentenwahl in der Ukraine hat gleich mehrere Rekorde aufgestellt: Nach dem vorläufigen Ergebnis, dass die Wahlkommission am frühen Montagmorgen veröffentlichte, gewinnt der Showman Wolodymyr Selenskyj mit fast drei Viertel der Stimmen. Das hat es in den fast 30 Jahren der Unabhängigkeit des Landes noch nicht gegeben. Für Amtsinhaber Petro Poroschenko stimmten nur knapp 25 Prozent der Wähler.

Ein weiterer Rekord ist das Tempo, mit dem Selenskyj an die Staatsspitze gestürmt ist. Er hatte am Silvesterabend seine Kandidatur angekündigt und nur drei Monate später gewann er Ende März mit 30 Prozent die erste Wahlrunde. In der Stichwahl drei Wochen später legte er an diesem Sonntag mehr als das Doppelte zu. Neu für die Ukraine ist auch, dass die Wahl kein Profi-Politiker gewinnt, sondern ein Schauspieler, der in der beliebten TV-Serie "Diener des Volkes" einen Schullehrer spielt, der zum Präsidenten gewählt wird.

Was ist Selenskyjs Erfolgsgeheimnis?

Wie konnte ein 41-jähriger Polit-Neuling ohne klares Programm und fast ohne Wahlkampf einen solchen Vertrauensvorschuss erhalten? Selenskyjs Wahlergebnis ist nur auf den ersten Blick überraschend. Demoskopen stellen seit Jahren Politikverdrossenheit bei den Ukrainern fest. Gleichzeitig wollen die Bürger neue Politiker sehen.

Wahlsieger Selenskyj: "Ich bin nicht Ihr Gegner, ich bin Ihr Urteil"Bild: Reuters/V. Ogirenko

Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) vom April 2018, also ein Jahr vor der Wahl, erreichte Selenskyj auf einer Liste von 30 Personen die höchsten Sympathiewerte. 40 Prozent bewerteten ihn positiv, genauso viele neutral und nur elf Prozent negativ. Poroschenko hingegen bewerteten rund zehn Prozent positiv, 13 neutral und mehr als 70 Prozent negativ. Selenskyjs Sieg ist das Ergebnis von Enttäuschung, die an Wut auf den bisherigen Präsidenten grenzt. Bei dem von Selenskyj vorgeschlagenen Rededuell im Kiewer Olympiastadion sagte er zu Poroschenko: "Ich bin nicht Ihr Gegner, ich bin Ihr Urteil."

Es gibt aber noch weitere Gründe für den Machtwechsel: Die Ukrainer geben ihren Staatsoberhäuptern offenbar ungern eine zweite Chance. Von den bisher fünf Präsidenten gelang nur Leonid Kutschma 1999 die Wiederwahl. Beobachtern zufolge unterschätzte Petro Poroschenko den Wunsch der Menschen nach Veränderung. Zugleich überschätzte er die Wirkung seiner außenpolitischen Erfolge, zu denen er die visafreie Einreise in den Schengen-Raum und das Assoziierungsabkommen mit der EU zählt.

Bei den Bürgern wuchs aber die Unzufriedenheit - angefangen mit der forcierten pro-ukrainischen Kulturpolitik nach der Annexion der Krim durch Russland, über die Umbenennung von Städten, Ortschaften und Straßen die sowjetischen Bezeichnungen und Namen trugen, bis hin zu den steigenden Gaspreisen und den Korruptionsvorwürfen gegen sein Umfeld. Poroschenkos Versuch, sich als Oberbefehlshaber im Donbass-Krieg zu profilieren, funktionierte nicht. Und seine Bemühungen eine von Russland unabhängige ukrainische orthodoxe Landeskirche zu gründen, brachten ihm keine zusätzlichen Sympathiewerte.

Wahlkämpfer Poroschenko: Wechselstimmung unterschätzt, Erfolge überschätztBild: picture-alliance/AP Photo/E. Lukatsky

Nach Ansicht der meisten Beobachter war Poroschenkos Wahlkampf schwach und ohne neue Ideen. Gleichzeitig vermied sein Konkurrent Interviews. Wolodymyr Selenskyj setzte lieber in sozialen Netzwerken auf junge Wähler - und das mit Erfolg.

Wird Selenskyj Kompromisse mit Russland eingehen?

Poroschenko verlor im Herzen des Landes, in den zentralen Regionen an Unterstützung. Deren Gewicht hat aber nach dem Verlust der Krim und eines Teils des Donbass zugenommen. Das gilt auch für die am dichtesten besiedelte Region Dnipropetrowsk. Vielleicht hängt Selenskyjs gutes Wahlergebnis dort auch damit zusammen, dass er aus Krywyj Rih stammt, der zweitgrößten Industriestadt der Region. Die höchsten Wahlergebnisse erzielte Selenskyj in den russischsprachigen Regionen im Süden und Osten der Ukraine, wo früher Kandidaten Wahlen gewannen, die sich für eine Annäherung an Russland einsetzten.

Mitarbeiterin von Selenskyjs Social-Media-Team: Mit Erfolg auf junge Wähler gesetztBild: Reuters/V. Ogirenko

Die Frage, wie sich Selenskyj gegenüber der Führung in Moskau verhalten wird, ist eine der wichtigsten Prüfungen seiner Präsidentschaft. Noch gibt er sich wortkarg und bekennt sich lediglich zum bisherigen Kurs der europäischen Integration. Doch Beobachter rechnen bei ihm mit mehr Kompromissbereitschaft in den Gesprächen mit dem Kreml, die Selenskyj schon selbst angedeutet hat. Einer der wichtigsten Punkte wird das Schicksal der faktisch eingefrorenen Minsker Vereinbarungen zur Wiedereingliederung der separatistischen Regionen Donezk und Luhansk in die Ukraine sein.

Die größten Risiken für die Ukraine nach Selenskyjs Sieg

Um den toten Punkt im Minsk-Prozess zu überwinden und auch um Reformen im Land durchzuführen, braucht Selenskyj eine Mehrheit im Parlament, das im Herbst neu gewählt wird. In Umfragen führt Selenskyjs neugegründete Partei "Diener des Volkes". Doch vieles hängt von den ersten Monaten der Amtszeit des neuen Präsidenten ab, und davon, welche Leute Selenskyj in Ämter bringt. Das ist noch offen. Poroschenko verkündete bereits in der Politik zu bleiben, um seine Errungenschaften zu verteidigen. "Der neue Präsident bekommt eine starke Opposition", sagte er.

Eines der größten Risiken für die Ukraine nach Selenskyjs Sieg ist wohl die Gefahr einer neuen Konfrontation innerhalb der Gesellschaft. Die Wahlen zeigen wieder die alte Spaltung in ein bedingtes pro-westliches und pro-russisches Lager auf. Hinzugekommen ist eine neue Trennlinie, denn im pro-westlichen Lager gibt es sowohl Anhänger als auch Gegner von Selenskyj.

Eine weitere Gefahr ist laut Kritikern, dass der Einfluss der Oligarchen im Lande aufgrund mangelnder politischer Erfahrungen des neuen Präsidenten noch weiter zunimmt. Nach der ersten Wahlrunde behauptete Poroschenko, Selenskyj sei eine Marionette des Medienmoguls Ihor Kolomojskyj. Selenskyj selbst weist jegliche politische Verbindung zu dem Geschäftsmann zurück, der derzeit im Ausland lebt.

Eine große Herausforderung für den neuen Präsidenten werden nach Ansicht von Beobachtern auch die hohen Erwartungen und Hoffnungen der Menschen sein. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist Selenskyj aber in einer Frage im Vorteil: Er hat versprochen, nur für eine Amtszeit anzutreten.

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