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Seltene Erkrankungen betreffen Millionen

Gudrun Heise
27. Februar 2023

Ein Gen-Defekt ist oft die Ursache für eine sogenannte Seltene Erkrankung, die meist im Kindesalter beginnt. Schon die Zeit bis zur Diagnose kann für diese "Waisen der Medizin" zur nervenaufreibenden Odyssee werden.

 Frau mit einem Mukoviszidose Beatmungsgerät
Mukoviszidose, eine Krankheit, die das Atmen erschwert, gehört zu den Seltenen Erkrankungen, die vergleichsweise gut erforscht sindBild: NDR

Allein in Deutschland gibt es vier Millionen Betroffene mit einer sogenannten Seltenen Erkrankung. Als selten gilt eine Krankheit, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen darunter leiden. Bis eine Diagnose gestellt wird, vergehen durchschnittlich sieben Jahre. "Für die meisten bedeutet eine Diagnose vor allem Erleichterung", weiß Christine Mundlos von der ACHSE e.V., der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen. Das gilt vor allem, wenn es um Kinder geht.

"Das Suchen hat ein Ende und die Betroffenen gewinnen etwas mehr Klarheit, wenn sie die Ursache für ihr Leiden kennen und dann von da aus die nächsten Schritte gehen können. Es ist leichter, mit der Krankheit umzugehen, wenn sie einen Namen hat", so Mundlos.

Am Anfang meist Ungewissheit und Angst

Die meisten Eltern spüren, dass mit ihrem Kind irgendetwas nicht stimmt und gehen erst einmal zum Arzt. Aber viele Ärzte wissen nicht, wie sie mit Symptomen umgehen sollen, die in kein Schema passen und zu denen es oft noch nicht viele Informationen gibt. "Zunächst kann der Arzt die Eltern vielleicht noch beschwichtigen, man müsse dem Kind Zeit geben sich zu entwickeln", sagt Mundlos. "Viele Eltern aber haben die Sorge, zu spät zu reagieren und fragen sich, was passiert, wenn es eine Therapie für ihr Kind gibt, sie aber vielleicht nicht früh genug damit anfangen."

Meist geht es erst einmal von einer Arztpraxis zur nächsten. Da liegen irgendwann nicht nur die Nerven der Eltern blank. Immer wieder müssen sie mit ihren Kindern zu Untersuchungen beim Arzt oder in einer Klinik.

"Dann kommt bei den Kindern oft die Frage auf: Was stimmt mit mir nicht? Warum sind meine Eltern nicht zufrieden mit mir, und warum muss ich immer wieder untersucht werden?", erklärt Mundlos die Situation, in der Kinder mit Seltenen Erkrankungen häufig stecken.

Der Physiker Stephen Hawking litt an der Seltenen Erkrankung ALSBild: Niklas Halle'n/AFP/Getty Images

Vor der Therapie steht die diagnostische Forschung

Noch immer haben 40 bis 50 Prozent der Patienten mit einer Seltenen Erkrankung keine genaue Diagnose. Schon seit geraumer Zeit versucht die Forschung das zu ändern.

"Durch neue und technologisch bessere Möglichkeiten der Sequenzierung kann mittlerweile das gesamte Genom analysiert werden", erklärt Holm Graeßner vom Zentrum für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen. Er ist spezialisiert auf deren Erforschung, und es gibt Fortschritte zu vermelden. "Wir können heute Varianten im Genom entdecken, die wir vor kurzem noch nicht sehen konnten und die möglicherweise die Ursache für eine Erkrankung sein können. Wir sind jetzt in der Lage, weitere Diagnosen für weitere Patienten mit einer Seltenen Erkrankung finden zu können."

Die Diagnose ist ein erster und wichtiger Schritt hin zur Therapie. Dabei geht es nicht nur um Medikamente. Auch spezielle Behandlungsmethoden, die auf die Erkrankung zugeschnitten sind, gehören dazu. Physiotherapie beispielsweise, Ergotherapie oder Logopädie können Teil der Behandlung sein. Aber all das setzt eine richtige Diagnose voraus.

Bei einigen Seltenen Erkrankungen gibt es Fortschritte

Etwa 8000 Seltene Erkrankungen sind bislang bekannt, immer wieder kommen neue hinzu. Mukoviszidose (Cystic fibrosis) ist ein Beispiel für eine Seltene Erkrankung, die bereits seit vielen Jahrzehnten erforscht wird. Die Ursache für diese Stoffwechselstörung ist ein Fehler auf dem Chromosom 7, im sogenannten CFTR-Gen. Aufgrund dieses Gen-Defekts entsteht in den Zellen zäher Schleim, der sich vor allem auf die Lunge legt, aber auch andere Organe verstopfen kann.

In Deutschland leben mehr als 8000 Menschen mit Mukoviszidose. Heilbar ist die Erkrankung bislang nicht, aber die Lebenserwartung ist gestiegen. 1938 betrug sie gerade mal sechs Monate. Mittlerweile liegt sie bei durchschnittlich 40 Jahren, und immer mehr Patienten werden wesentlich älter und können ein relativ normales Leben führen. 

"Mukoviszidose ist vielleicht die häufigste der Seltenen Erkrankungen", sagt Graeßner. "Sie ist bei der Therapie aber eher eine Ausnahme. Wegen der relativ großen Anzahl von Patienten gibt es einen relevanten Markt und damit vergleichsweise viele Medikamente. Insofern ist die Mukoviszidose ein positives Beispiel, aber leider insgesamt nicht exemplarisch für Seltene Erkrankungen." 

Die Ice Bucket Challenge sollte 2014 auf die seltene Erkrankung ALS aufmerksam machenBild: Elise Amendola/AP Photo/picture alliance

Jedes Jahr werden 150 bis 200 Kinder mit Mukoviszidose geboren. Ein entsprechender Test auf diese Erkrankung hin ist in Deutschland seit September 2016 Teil des Neugeborenen-Screenings.

AuchALS, die Amyotrophe Lateralsklerose, ist mittlerweile etwas bekannter. Das ist auch der Spendenkampagne'ALS Ice Bucket Challenge' im Sommer 2014 zu verdanken. Prominente und Menschen des öffentlichen Lebens schütteten sich eiskaltes Wasser über den Kopf, ließen sich dabei filmen und posteten die Videos in sozialen Medien, um auf die neurologische Erkrankung aufmerksam zu machen.

ALS führt allmählich zur Lähmung der Atemmuskulatur und schließlich zum Tod. Laut der DZNE-Stiftung - Für ein Leben ohne Demenz, Parkinson und ALS. Allein in Deutschland sind es zwischen 6000 und 8000 Menschen, die mit ALS leben. 

Große Hoffnung liegt auf der Gentechnik

Etwa 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen sind, wie auch die Mukoviszidose, genetisch bedingt. Umso größer ist die Hoffnung, zumindest einen Teil mithilfe der Gentechnik behandeln zu können. Betroffene und Ärzte versprechen sich viel davon.

"Mittlerweile hat man ja Möglichkeiten gefunden, am Genom zu arbeiten, etwa mit der Genschere CRISPR/Cas. Man kann Veränderungen am Genom vornehmen", sagt Mundlos. "Vielleicht ist es irgendwann möglich, defekte Abschnitte einfach rauszuschneiden und ein defektes Gen dann durch ein gesundes Gen zu ersetzen."

Graeßner dämpft die Hoffnung auf schnelle und breiter anwendbare Therapiemethoden dank der Genschere ein wenig. "Bei den seltenen Erkrankungen, die ich überblicke, nimmt das im Moment noch einen reinen Forschungsstatus ein. Ich sehe sehr wenige klinische Anwendungen, die sich aber noch in frühen Phasen der Erforschung befinden", so Graeßner. 

Die Waisenkinder der Medizin

Selbst wenn die Gentechnik irgendwann erfolgreich eingesetzt werden könne, müssten auch andere Probleme angegangen werden, gibt Mundlos zu Bedenken. "Der Weg der Patienten bis zur Diagnose bereitet mir noch immer Sorge. Bis zur Diagnose vergeht meist noch immer zu viel Zeit. Wir wünschen uns, dass Ärzte soweit sensibilisiert sind, dass sie im Hinterkopf haben, dass es eben diese Seltenen Erkrankungen gibt", erklärt Mundlos.

Dann können sie die Patientinnen und Patienten an die spezialisierten Zentren weiterleiten. Über 30 davon gibt es in Deutschland. Aber die Zusammenarbeit funktioniere eben noch nicht optimal, sagt Mundlos. Wäre das der Fall, könnte mithilfe der Experten und deren Fachwissen zumindest die Zeit bis zur wichtigen Diagnosestellung verkürzt werden, auch wenn es bisher nur für etwa zehn Prozent der Seltenen Erkrankungen überhaupt Behandlungsmöglichkeiten gibt.

 

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