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Seltener Gendefekt: Vier Fragen zum CHARGE-Syndrom

Valeria Risi
8. August 2024

Eines von 10.000 Kindern wird mit diesem komplexen Gendefekt geboren. Doch das CHARGE-Syndrom ist auch Fachleuten weitgehend unbekannt. Der erste weltweite CHARGE-Awareness-Day soll das ändern.

Drei Jugendliche mit CHARGE-Syndrom, vor einer gelben Wand, zwei tragen eine Brille, einer trägt ein Stirnband mit einem Knochenleitsystem, das ihm das Hören ermöglicht.
Jannis, Josha und Julian - drei Jugendliche mit CHARGE-Syndrom, die sich auf einer Fachkonferenz in Oberwesel kennengelernt haben und seitdem enge Freunde sind.Bild: Martina Eichner/CHARGE Syndrom e.V.

Was ist das CHARGE-Syndrom?

Das CHARGE-Syndrom ist eine seltene Erkrankung, die selbst vielen Fachleuten nicht geläufig ist. Ausgelöst wird sie durch eine Spontanmutation auf dem sogenannten CHD7-Gen. Das fand ein Team um die Genetikerin Dr. Conny van Ravenswaaij-Arts von der Radboud Universität im niederländischen Nijmegen vor 20 Jahren heraus.

Menschen mit diesem Syndrom sind hörsehbehindert oder taubblind. Zusätzlich haben sie bis zu 40 weitere, unterschiedlich ausgeprägte Beeinträchtigungen - darunter Herzfehler, Hormon- und Gleichgewichtsstörungen oder Fehlbildungen an Luft- und Speiseröhre.

Der Name CHARGE entstand 1979 als Akronym, das aus den Hauptmerkmalen der Krankheit gebildet wurde:

C für Coloboma: Fehlbildung in Netz- und Aderhaut der Augen

H für Heart: eine Vielzahl von Kindern wird mit einem Herzfehler geboren

A für Atresie der Choanen: der Übergang vom Nasen- in den Rachenraum ist verschlossen

R für retardiertes Längenwachstum und eine verzögerte Entwicklung

G für genitale Fehlbildungen

E für Ears: Verformungen der Ohren, sowie Schwerhörigkeit bis Taubheit

Trotz Gleichgewichtsstörungen balanciert dieses kleine Mädchen mit CHARGE-Syndrom auf einem Kletterparcours und hat Spaß, wie jedes andere KindBild: CHARGE Syndrom e.V.

Auch wenn viele dieser Merkmale auf die meisten Menschen mit dem CHARGE-Syndrom zutreffen, haben sich Fachleute weltweit darauf geeinigt, dass die entscheidenden Hauptkriterien für die klinische Diagnose CHARGE die sogenannten vier Cs sind: Choanalatresie oder Gaumenspalte; Charakteristische Anomalien des Außen-, Mittel- oder Innenohrs; Colobome der Augen und Fehlbildung der cranialen Nerven (Hirnnerven).

Was sind die Ursachen für das CHARGE-Syndrom?

Dr. Conny van Ravenswaaij-Arts ist spezialisiert auf Chromosomen-Störungen und erinnert sich an den Beginn ihrer Forschung, Ende der 90er Jahre: "Da die Beeinträchtigungen bei CHARGE so komplex sind, war ich davon überzeugt, dass eine chromosomale Deletion vorliegen musste. Jeder Mensch hat etwa 20.000 Gene, die sich auf den Chromosomen befinden. Eine Deletion bedeutet, dass ein Teil eines Chromosoms fehlt. Dieser Teil kann nur ein einziges Gen oder hunderte Gene enthalten," erklärt sie.

Wie sie und ihr Team jedoch nach acht Jahren Forschung herausfanden, lag keine Deletion vor. Das CHARGE-Syndrom wird also nicht durch das Fehlen eines ganzen Chromosomenteils verursacht, sondern durch spontane Mutationen auf einem spezifischen Gen, dem CHD7.

Dieses regulatorische Gen orchestriert wie eine Art Teamleiter die Arbeit anderer Gene, die für die frühe Entwicklung, unter anderem von Herz, Augen und Ohren beim Fötus zuständig sind. Wenn CHD7 nicht richtig funktioniert, hat das also einen negativen Einfluss auf viele weitere Gene. Es entstehen Fehlbildungen.

Ist CHARGE therapierbar?

In Deutschland kommen jedes Jahr etwa 60-65 CHARGE-Babys auf die Welt. Die ersten Lebensjahre sind die kritischsten. Denn oft sind viele lebensnotwendige Operationen erforderlich: Herz, Atemwege, Gehör oder künstliche Ernährung stehen im Fokus. Schlucken oder Atmen ist für viele Kinder mit CHARGE schier unmöglich. In solchen Fällen sind lebensrettende Maßnahmen, wie eine Magensonde oder ein Luftröhrenschnitt, notwendig. Im Durchschnitt haben die meisten CHARGE-Kinder in den ersten drei Jahren bereits zehn Operationen hinter sich.

Cochlea-Implantat bei Schwerhörigkeit

03:17

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Viele dieser Kinder können nur dank Hörgerät oder Cochlea-Implantat hören. Bei anderen hilft nichts davon, da der erforderliche, gesunde Hörnerv gänzlich fehlt. Einige CHARGE-Kinder können daher nur sehr eingeschränkt oder ausschließlich über Körperkontakt kommunizieren. Andere schaffen es jedoch, die Gebärdensprache zu lernen und wieder andere lernen zu sprechen, fast so gut wie jedes andere Kind.

Für alle Kinder – ganz gleich wie schwer die Beeinträchtigungen im Säuglingsalter sind – ist es wichtig, dass die Förderung so früh wie möglich startet. Intensive Hör- und Sehfrühförderung, genauso wie Ergo- und Physiotherapie, sind von großem Nutzen. Logopädie kann helfen, um die Mund- und Zungenmotorik für das Schlucken zu schulen, sowie das Sprechen anzubahnen. In sehr vielen Fällen müssen Hormone verabreicht werden, die die Kinder nicht selbst produzieren können. Sie haben Einfluss auf das Wachstum, den Schlaf und die Pubertät.

Welche Hilfsangebote gibt es für Betroffene?

Schätzungsweise handelt es sich bei einer von 10.000 Geburten um ein Kind mit CHARGE-Syndrom. Die Chancen sind also weitaus höher als ein Sechser im Lotto – ohne Galgenhumor kommt man als CHARGE-Eltern nicht weit. Genauso wenig ohne ein helfendes Netzwerk. Viele der betroffenen Familien nehmen früher oder später Kontakt zum CHARGE-Syndrom e.V. auf. Dieser Verein wurde vor 18 Jahren von einer Handvoll Familien von Kindern mit CHARGE gegründet. Heute ist er eine der wichtigsten Anlaufstellen in Europa und bündelt die Expertise rund um diesen seltenen Gendefekt.

In den Niederlanden wenden sich die meisten Familien an die Uniklinik Groningen, wo es seit 2006 ein interdisziplinäres Kompetenzzentrum für das CHARGE-Syndrom gibt. Aktuell sind dort etwa 125 Kinder und 60 junge Erwachsene in Behandlung. 

CHARGE-Verbände aus vielen Ländern möchten am 8.8.2024 mehr Sichtbarkeit für dieses seltene Syndrom und die davon Betroffenen schaffenBild: CHARGE Syndrom e.V.

Van Ravenswaaij-Arts veröffentlichte ihre Forschungsergebnisse rund um das CHARGE-Syndrom am 8.August 2004, vor genau 20 Jahren. Um den CHARGE-Menschen mehr Sichtbarkeit zu verleihen, die Forschung voranzutreiben und die Förderung zu optimieren, wurde nun der CHARGE-Awareness-Day ausgerufen. "Natürlich geht es darum, Bewusstsein zu schaffen", sagt die Genetikerin. "Nicht nur für CHARGE, sondern für seltene komplexe Erkrankungen im Allgemeinen und für Taubblindheit, für die CHARGE wirklich bezeichnend ist."

 

Valeria Risi Autorin
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