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Sensible Blicke in den Migrantenalltag

Das Interview führte Marion Hetzel für www.qantara15. Oktober 2005

Ertan, Alban, Ali und Kais haben ihre Wurzeln in der Türkei, Albanien, Marokko und Tunesien. In ihrem Film "Was lebst du?" begleitete Bettina Braun die vier jungen Migranten mit Witz und Tiefgang.

'Was lebst du?' begleitet vier junge Muslime durchs Leben - nah und ehrlichBild: Realfictionfilme.de

Ort ihrer Zuflucht ist das Jugendzentrum Klingelpütz in Köln. Hier rappen sie gemeinsam oder holen sich Ratschläge bei den Sozialarbeitern. Ungefähr zwei Jahre lang hat die Regisseurin sie mit der Kamera begleitet. Während der Dreharbeiten wurde sie selbst Mutter eines Sohnes und lässt ihre Protagonisten auf sehr freundschaftliche Weise daran teilhaben.


Herausgekommen ist ein sensibles, respektvolles und gleichzeitig humorvolles Porträt mit großer Authentizität und gegenseitiger Vertrautheit. Wortwitz, Alltags- und Existenzsorgen wechseln sich immer wieder mit tiefgründigen Reflexionen ab.

Da sind auf der einen Seite Jugendträume der vier jungen Männer, durch medial bedingte Klischeevorstellungen geprägt, sowie die Erwartungen ihrer Väter an sie. Auf der anderen Seite stehen die ernüchternde Realität in der Berufswelt und die Schul- und Sprachprobleme. Dazwischen wird über den adäquaten Umgang mit dem anderen Geschlecht und mit Kindern reflektiert. Und ganz nebenbei erfährt der musikalisch unaufgeschlossene Zuschauer etwas Wesentliches über die Natur des Rap.

Folgend ein Gespräch mit der Regisseurin Bettina Braun und einem der Hauptdarsteller:

'Was lebst du?' ist ein authentisches Portrait über Träume und die ernüchternde Wirklichkeit - nebenbei klärt es über den Rap aufBild: Realfictionfilme.de

Frau Braun, Ihnen ist es gelungen, mit dem Film eine Brücke von den Jugendlichen zu den deutschen Zuschauern zu schlagen. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Bettina Braun: Zum einen habe ich selbst mehrere Jahre in England gelebt und mich dort nie so ganz beheimatet gefühlt. Aufgrund dieser Erfahrung war das Thema Heimatgefühl und das Problem, mit zwei Kulturen zu leben, schon lange in meinem Kopf. Dann habe ich auch in England beobachtet, dass die Integration nur teilweise stattgefunden hat und dass man zum Beispiel auch dort viele Schwarze oder auch Inder ausschließlich in Gruppen zusammen gesehen hat. Und ich war schon damals neugierig, wie diese Menschen eigentlich leben. Zum anderen die Sprache, ich mag das etwas gefärbte Deutsch der Migranten sehr. So kam ich letztendlich zu dem Thema. Ich kannte das Jugendzentrum Klingelpütz und zwei Sozialarbeiter aus der Einrichtung und habe so die Jungs kennen gelernt.

Wussten Sie schon vorher, wie der Film aussehen wird?

Nein, nicht ganz genau. Ich wusste nur sehr schnell, wen ich gerne dabei haben wollte und dass ich deren Leben begleiten möchte. Ich wusste auch nicht, dass es so lange dauern würde.

Dann war es wie ein Experiment?


Das ist meine Art des Arbeitens. Ich mag Themen, die nicht von Anfang an eine Storyline vorgeben. Ich suche meine Themen mehr in der Normalität. Meine Filme sind immer gefärbt durch meinen eigenen Blick auf die Welt. Ich möchte gar nichts Objektives erzählen.

Welche Reaktionen kamen vom Publikum?

Kais: Viele Leute meinten, dass ihnen die Augen geöffnet wurden für eine Welt, die sie bisher nicht kannten und dass es zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen im Wesentlichen gar nicht so große Unterschiede gibt. In erster Linie sind wir ja auch alle Menschen, egal mit welcher Nationalität oder Religion wir aufgewachsen sind und wo wir herkommen.

Braun: Es waren vornehmlich positive Reaktionen. Was für mich sehr schön war: Nach der Berlinale kamen Leute auf mich zu und meinten, dass sie tief bewegt waren, dass sie gelacht und geweint hätten. Wenn man den Film nach zwei Tagen noch im Kopf hat, ist das meistens ein gutes Zeichen

Im Film sieht man fast keine deutschen Jugendlichen. Habt Ihr keinen Kontakt zu Deutschen?

Kais: Natürlich haben wir Kontakt zu Deutschen, wir leben ja hier. Aber die engeren Freunde sind Ausländer und eigentlich dann auch Muslime. Hier im Umkreis sind nun mal nicht so viele Deutsche. Und hier im Jugendzentrum sind sowieso die meisten Ausländer.

Woran könnte das liegen?

Kais: Es gab manchmal Streitpunkte mit deutschen Jugendlichen. Ich meine damit nicht neugierige und offene Fragen, sondern wenn etwas schon eher negativ gemeint ist. Ein Beispiel ist, wenn man gefragt wird, warum die Schwester oder die Cousine nicht mit in die Disko gehen dürfen. Als Jugendlicher mit muslimischem Hintergrund möchte man nicht so gerne darüber streiten, weil das eben so bei uns ist. Das macht es dann schwierig, über den schulischen oder beruflichen Kontakt hinweg enge Freundschaften zu knüpfen. Ich bin in diese Kultur reingeboren und sehe mich nicht als jemand, der das großartig verändern wird.

Auf dem Kölner Fernsehfestival Cologne Conference 2005 war 'Was lebst du?' der Überraschungssieger - und gewann als beste Dokumentation den Phönix-Preis
'Mein Land bin ich selbst', sagt 'Was lebst du'-Darsteller KaisBild: Realfictionfilme.de


Ist es für Sie ein großer Unterschied, ob man im Umfeld mit der Bibel oder mit dem Koran groß geworden ist?

Kais: Eigentlich gibt es zwischen Christen und Muslimen keine großen Unterschiede, vielleicht abgesehen vom Schweinefleisch. Man soll in beiden Religionen seinen Mitmenschen helfen, seinem Körper nicht schaden, und keinen Sex vor der Ehe haben. Und das Fasten wie bei uns gibt es ja in ähnlicher Form bei den Christen auch. Ich glaube, der wesentlichere Unterschied ist, dass wir unsere Religion durch unsere Eltern mehr praktizieren, dagegen viele Jugendliche in Deutschland nicht mehr gläubig sind. Das finde ich schade, dass die christlichen Werte hier so verloren gehen.

Braun: Wobei das ja auch mit der Situation zusammenhängt, in der du lebst. Muslimische Jugendliche, die hier groß werden, praktizieren die Religion bei weitem nicht so streng wie ihre Eltern, und deren Kinder werden das auch wieder nicht so streng halten. Das hat sich in Deutschland bei uns auch seit zwei oder drei Generationen verändert.

Warum kommen außer den Müttern der Protagonisten und Bettina so gut wie keine anderen Frauen oder Mädchen zu Wort in dem Film?

Braun: Zum einen waren die Jungs ja während der Dreharbeiten noch recht jung und viele 'Beziehungen' sehr flüchtig und schwer bis unmöglich zu dokumentieren. Im Klingelpütz selber sind kaum Frauen, sonst hätte ich sie selbstverständlich miterzählt.

Die festeren Bindungen waren zwei Beziehungen zu muslimischen Frauen. Warum diese Frauen nicht im Film vorkommen, beantwortet der Film selbst. Einer der Protagonisten sagt im Film: "Hey, gleich nimmst Du nicht meine Freundin auf. Wenn das raus kommt, dass wir zusammen sind, weißt Du aber nicht, was die für 'nen Ärger bekommt. Das kannst Du Dir nicht vorstellen."

Kais: Ich denke, es lag bei mir und den Jungs daran, dass wir in einem Alter waren, wo man eben oft die Freundin wechselt. Und deswegen wäre es aus taktischen Gründen nicht gut gewesen, mit den Mädchen vor der Kamera aufzutreten. Da wir uns schon dachten, dass unsere Eltern den Film irgendwann sehen werden, wollten wir dieses Thema auch einfach vermeiden.

Was war Ihnen darüber hinaus wichtig bei dem Film?

Braun: Was Migration eigentlich für die Menschen bedeutet. Wenn wir hier in Deutschland Leute aus anderen Ländern aufnehmen, dann müssen wir auch einen Schritt auf sie zugehen. Wenn man in ein Land kommt, in dem man die Sprache nicht spricht und die Gepflogenheiten nicht kennt, ist doch klar, dass man sich erst mal vorwiegend mit den eigenen Landsleuten zusammentut. Auf die müssen wir schon einen Schritt zugehen.

Kais, Sie sprechen von sich selbst immer als Ausländer. Als was fühlen Sie sich denn?

Kais: In Tunesien bin ich der Deutsche. In Deutschland bin ich der Tunesier. Mein Land bin ich selbst!

Integration besteht nicht nur aus Kursen: 'Wir müssen einen Schritt auf sie zugehen', sagt Regisseurin Bettina BraunBild: dpa
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