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PolitikEuropa

Europride in Serbien: Verbot als Ablenkungsmanöver

Astrid Benölken | Natalija Miletic
16. September 2022

Als erste Stadt auf dem Balkan richtet Belgrad die Europride aus. Der symbolträchtigste Teil der LGBTQ-Veranstaltung, der Pridemarsch, wurde "aus Sicherheitsgründen" abgesagt. Ein Vorwand, sagen Kritiker.

Demonstranten mit Regenbogenfähnchen
Pridemarsch in Serbien am 18.09.2021: Damals gab es keine "Sicherheitsbedenken" der Behörden - und deshalb kein VerbotBild: Andrej Isakovic/AFP/Getty Images

Er wollte nur kurz in die Schule kommen, um eine Prüfung abzulegen. Vor dem Gebäude stürmten Mitschüler auf ihn zu und brüllten: "Tötet die Schwuchtel!" Die Schwuchtel - damit meinten sie ihn.

In diesem Moment fürchtete Stefan Radovic, damals 16 Jahre alt, um sein Leben. Von da an stand er unter Polizeischutz, wenn er in seiner Heimatstadt Kursumlija in Südserbien in die Schule ging. "Diese Erfahrung war so traumatisch für mich, dass ich noch immer unter den psychischen Folgen leide", sagt Radovic heute, 13 Jahre später. Der Hass seiner Mitschüler traf Stefan Radovic damals nur aus einem Grund: Weil er schwul ist.

"Tötet die Schwuchtel!": Stefan Radovic aus Kursumlija in Südserbien wurde lebensgefährlich bedroht - weil er schwul istBild: Privat

Heute setzt sich Stefan Radovic als Aktivist dafür ein, dass es anderen queeren Menschen in Serbien irgendwann einmal besser ergeht. Denn noch immer verheimlicht mehr als die Hälfte von ihnen ihre sexuelle Orientierung, wie eine aktuelle Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte zeigt. Fast 90 Prozent der Befragten trauen sich nicht einmal, in der Öffentlichkeit mit ihren gleichgeschlechtlichen Partnern Händchen zu halten.

Ein Marsch, der Zeichen setzen sollte - abgesagt

Die seit Montag (12.09.2022) in Belgrad stattfindende Europride wollte ein Zeichen setzen gegen die verbreitete homophobe Stimmung im Land. Seit 1992 findet die LGBTQ-Veranstaltung jedes Jahr in einer anderen europäischen Stadt statt. Belgrad ist die erste Metropole auf dem Balkan, welche die Europride ausrichten darf. Zahlreiche Aktivisten und Politiker aus dem Ausland haben ihre Teilnahme angekündigt. Symbolischer Höhepunkt der Veranstaltung ist der für Samstag geplante Pride-Marsch durch die Belgrader Innenstadt. Oder besser gesagt: Er war der geplante Höhepunkt.

Europride Serbien: Symbolträchtige LGBTQ-Parade abgesagt

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Denn Ende August blies Präsident Alexander Vucic die Parade auf einmal ab - angeblich könne er aufgrund verschiedener Krisen die Sicherheit des Umzugs nicht gewährleisten. Daraufhin gab es europaweit Proteste. Der von Vucic einberufene Nationale Sicherheitsrat, der die endgültige Hoheit in dieser Angelegenheit hat, bestätigte die Entscheidung am Dienstag dennoch.

"Ich finde es äußerst besorgniserregend, dass die Behörden den Europride-Marsch dermaßen stark behindern, während gleichzeitig andere Veranstaltungen und Massenkundgebungen frei und sicher auf den Straßen von Belgrad stattfinden", sagte Dunja Mijatovic, Menschenrechtskommissarin des Europarates. Trotz des offiziellen Verbots wollen die Organisatoren den Marsch stattfinden lassen. "Wir werden Intoleranz und Hass nicht gewinnen lassen", hieß es in einer Mitteilung der Veranstalter.

Blendgranaten, Molotowcocktails, Plünderungen

Die von Präsident Vucic angeführten Sicherheitsbedenken haben einen ernsten Hintergrund. Die erste Pride-Parade in Serbien mussten 2001 abgebrochen werden, weil die Teilnehmer brutal von Hooligans überfallen wurden. Beim nächsten Versuch 2010 kam es zu Straßenschlachten zwischen Polizei und Gegendemonstranten. Ein Anti-LGBTQ-Mob aus serbischen Hooligans, Nationalisten und christlichen Fundamentalisten warf Blendgranaten auf die Sicherheitskräfte und Brandsätze auf die Zentrale der damaligen Regierungspartei sowie den staatlichen Fernsehsender, steckte mehrere Autos in Flammen und plünderte Läden. Knapp hundert Menschen wurden damals verletzt. Seit 2014 verlaufen die Pride-Märsche allerdings ohne Vorfälle.

Serbische Polizisten nehmen am 10.10.2010 in Belgrad einen gewalttätigen homophoben Demonstranten festBild: picture-alliance/dpa

Seit Jahren setzt sich Aleksandra Gavrilovic aus Belgrad mit ihrer LGBTQ-Organisation Labris für mehr Sichtbarkeit und einen normaleren Umgang mit der LGBTQ-Gemeinschaft in Serbien ein. Sie und andere Aktivisten halten die vom Präsidenten angeführten Sicherheitsbedenken für vorgeschoben. Am gleichen Tag nämlich, an dem Vucic erstmals verkündete, den Marsch nicht stattfinden zu lassen, gab es ungewöhnliche Nachrichten im Konflikt mit Kosovo, das seit 2008 ein unabhängiger Staat ist, von Serbien allerdings nicht anerkannt wird.

Ablenkung vom Kosovo-Problem

Beide Länder beschlossen, bei Einreisen von Bürgern die Ausweisdokumente des jeweils anderen Staats zu akzeptieren. Doch für Vucics nationalistische Wähler kommt jedes noch so kleine Zugeständnis an Kosovo einer Niederlage gleich. "Europride war der perfekte Vorwand, um den Fokus gekonnt vom Kosovo wegzulenken, damit sich die Rechten stattdessen mit diesem Thema auseinandersetzen", sagt Gavrilovic.

Mitglieder der Belgrader LGBTQ-Aktivistengruppe "Da se zna" (Damit man es weiß)Bild: Privat

Mit der Absage des Europride-Marsches nimmt Vucic leichtfertig in Kauf, dass die LGBTQ-Gemeinschaft wieder vermehrt zum Ziel von Angriffen wird. Stefan Sparavalo von der LGBTQ-Organisation "Da se zna", zu Deutsch "Damit man es weiß", berichtet: "Allein im August haben wir so viele Übergriffe auf Mitglieder der LGBTQ-Community dokumentiert, wie in den vergangenen sieben Monaten."

Brandrede des Patriarchen

Vor allem nationalistische und rechte Kräfte schüren den Hass gegen LGBTQ-Personen in Serbien. Tausende Menschen nahmen in den vergangenen Wochen an homophoben Protestzügen teil. Auch die serbisch-orthodoxe Kirche fachte diese Stimmung mit an. Der 2021 zum neuen Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche gewählte Patriarch Porfirije hatte nach seiner Ernennung noch versöhnliche Worte gegenüber der LGBTQ-Gemeinschaft gefunden. Nun beschwor er bei einer Gegendemonstration am vergangenen Sonnabend (10.09.2022) das Wertebild einer "traditionellen Familie". "Mit dieser Brandrede hat er uns vom Rest der Gesellschaft abgesondert, Intoleranz und Homophobie gefördert", wirft Sparavalo dem Kirchenführer vor.

Patriarch Porfirije, das Oberhaupt der serbisch-orthodoxen KircheBild: Darko Vojinovic/AP/picture alliance

Auch die rechtliche Situation für LGBTQ-Personen hat sich bisher nicht verbessert. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen keine Kinder adoptieren, von künstlicher Befruchtung sind sie ausgeschlossen. Gründen sie dennoch eine Familie, wird es kompliziert, berichtet die Aktivistin Aleksandra Gavrilovic aus eigener Erfahrung.

Eltern ohne Rechte für ihre Kinder

Sie lebt mit ihrer Partnerin zusammen, gemeinsam haben sie drei Kinder. Die Drillinge wurden zu früh geboren und mussten die ersten Wochen auf der Intensivstation verbringen. Weil Gavrilovic die Kinder zur Welt gebracht hatte, durfte sie die Frühchen besuchen - nicht aber ihre Partnerin. Die kann die drei auch nicht im Kindergarten oder in der Schule anmelden oder mit den Kindern allein ins Ausland verreisen. "Es ist, als sei meine Partnerin unsichtbar. Ich lebe in diesem Land, als wäre ich eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern", sagt Gavrilovic.

Serbiens Premierministerin Ana Brnabic ist offen lesbisch, setzt sich aber nicht für LGBTQ-Rechte ein, sondern steht hinter dem Europride-VerbotBild: picture-alliance/AP/D. Vojinovic

Dass es mit Ana Brnabic seit fünf Jahren eine offen in einer lesbischen Partnerschaft lebende Premierministerin in Serbien gibt, habe wenig an der schlechten Situation für queere Menschen geändert, findet Gavrilovic. Denn Brnabic verleugnet zwar ihre Homosexualität nicht, unterstützt die LGBTQ-Gemeinschaft aber auch nicht. In der Debatte um das jetzige Verbot des Europride-Marsches stellte sie sich sogar voll auf Vucics Seite.

Nicht willkommen

Dass Vucic sie dieser Tage erneut als Premierministerin nominierte, sehen Kritiker als kalkuliertes Signal. Im Ausland behält das EU-Kandidatenland Serbien damit einen LGBTQ-freundlichen Anstrich. Doch die eigentlichen Probleme blieben, finden Aktivisten wie Stefan Radovic. 

Obwohl er sich durch die Schule quälte und auch seinen Abschluss machte, findet Radovic in seiner Heimatstadt Kursumlija bis heute keine Arbeit. "Ich denke, ich bekomme keinen festen Job, weil ich offen schwul bin", sagt er. Jeder in dem 13.000-Einwohner-Städtchen wisse das, sagt er. "Sie lassen mich spüren, dass ich hier einfach nicht willkommen bin."

Astrid Benölken Redakteurin und Reporterin mit Schwerpunkt Europa