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Politik

Veröffentlicht Serbien falsche Corona-Zahlen?

24. Juni 2020

In dem Balkanland soll es viel mehr COVID-Erkrankte und Verstorbene geben, als offiziell bekannt war. Ein möglicher Grund der Vertuschung: die Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag.

Serbien Nis | Coronavirus | Wahl, Mitarbeiter
Wahllokal in Serbien Bild: DW/J. Djukic Pejic

"Sie werden uns nicht wieder einsperren, oder?", fragt eine Friseurin in Niš, der Großstadt in Südserbien. Die Straßen sind belebt, die Cafés voll, Abstand und Mundschutz scheinen für viele ein Thema der Vergangenheit zu sein. "Ein neuer Lockdown wäre kaum auszuhalten, vor allem wirtschaftlich", meint die Friseurin.

Doch genau dieses Szenario droht - Serbien könnte das erste europäische Land sein, das eine zweite Coronawelle erlebt. Und sie wäre selbst verschuldet, sagen viele.

Anfang der Woche enthüllte das renommierte Recherchenetzwerk BIRN (Balkan Investigative Reporting Network) die wirklichen Zahlen der durch das Virus Infizierten und Gestorbenen. Von Vertuschung ist die Rede.

In Serbien droht ein neuer Lockdown - Einkaufsstraße in NišBild: DW/J. Djukic Pejic

Epidemiologen kennen die Zahlen nicht?

Den Journalisten wurde ein Dokument unter dem Namen "Bericht für die Regierung" zugespielt, ein Auszug aus der staatlichen Datenbank zu COVID-19. Demnach sind bis Anfang Juni tatsächlich 632 Menschen mit oder an COVID-19 gestorben - der Krisenstab berichtete in diesem Zeitraum über 244 Fälle.

In der letzten Woche lag die Zahl der Neuinfektionen bei über 300 täglich, schreibt BIRN, dreimal so viel wie offiziell eingestanden.

"Ich habe die COVID-Datenbank nie gesehen", behauptet der Epidemiologe Branislav Tiodorović, Mitglied des staatlichen Krisenstabs. Seine Rolle sei "beratend", sagte er der DW. Tiodorović erklärte nicht, wie ein Epidemiologe ohne Zahlengrundlage "beratend" agieren kann.

Zunächst gab es kein umfassendes Dementi aus Regierungskreisen. Die Epidemiologin Darija Kisić Tepavčević, auch sie Mitglied im Krisenstab, versuchte die unterschiedlichen Daten mit dem Hinweis zu erklären, man achte darauf, welcher Patient an und welcher nur durch COVID-19 sterbe.

Zusätzliche epidemiologische Maßnahmen werden nicht ausgeschlossen - Klinik in NišBild: DW/J. Djukic Pejic

Das erklärt nicht die unterschiedlichen Daten über Neuinfektionen, auch widerspricht es den Angaben von Präsident Aleksandar Vučić.

"Wir registrieren und publizieren Daten über alle Toten und nicht, wie einige andere Länder es tun, die angeben, dass Haie mehr Menschen umbringen als Corona", sagte Vučić selbstzufrieden im April. Egal ob mit oder an Corona gestorben, man sage alles der Öffentlichkeit.

Mit eiserner Hand

Der frühere Radikalnationalist Vučić regiert das Balkanland seit acht Jahren immer autoritärer und hält die wichtigsten Medien an der kurzen Leine. Auch in der Pandemie führte Vučić mit eiserner Hand. Ohne Zustimmung des Parlaments verhängte er im März den Ausnahmezustand mit der strengsten Ausgangsperre in Europa.

Epidemiologen hatten nur noch die Rolle von Statisten. Es war Vučić, der täglich berichtete und eigenhändig Beatmungsgeräte in alle Ecken Serbiens brachte.

Bringt eigenhändig Beatmungsgeräte - Aleksandar Vučić (rechts)Bild: DW/J. D. Pejic

Schon Anfang Mai gab der starke Mann Corona-Entwarnung. Vor zwei Wochen ging die Nachricht um die Welt, dass das Belgrader Fußballderby zwischen Partizan und Roter Stern vor vollgepackten Tribünen gespielt wurde.

Wie viele Beobachter glaubt Mihailo Tešić, den Grund für den plötzlichen lockeren Umgang mit dem Virus zu kennen: am letzten Sonntag wurde gewählt. "Vučić wollte die Wahlen keinesfalls verschieben, sondern schnell hinter sich haben, denn so hat er die Freiheit, über Kosovo zu verhandeln", sagt der Chefredakteur der serbischen Ausgabe des Magazins "Vice".

Unfaire Wahlen und Erdrutschsieg

Vučićs Fortschrittspartei (SNS) konnte am Sonntag einen beispiellosen Sieg einfahren - mit rund 63 Prozent der Stimmen sicherte sie sich 189 von 250 Mandaten im Parlament. Über die Wahlhürde kamen nur noch die bisher mitregierenden Sozialisten und die neu gegründete Partei "Serbisches patriotisches Bündnis" des früheren weltbesten Wasserballers Aleksandar Šapić. Auch einige nationale Minderheiten sind im Parlament vertreten - für sie gilt die Hürde von drei Prozent nicht.

Medienvertreter in der Wahlnacht in der Zentrale der Fortschrittspartei (SNS)Bild: Reuters/M. Djurica

Allerdings blieben die wichtigsten oppositionellen Parteien den Wahlen fern. Gerade deswegen, so die Kritiker, sei es Vučić wichtig gewesen, die Wahlbeteiligung zu steigern. Sie blieb aber mit rund 50 Prozent historisch niedrig.

"Serbien ist keine Demokratie mehr", sagt der Politologe Dušan Spasojević der DW, "und der Oppositions-Boykott sowie der Wahlausgang haben das jetzt völlig offenbart."

Die Eile mit den Wahlen wird mit dem wachsenden Druck auf Serbien verbunden, die einstige Südprovinz Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen. Am Dienstag sprach Vučić in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, von dort reist er nach Brüssel und am Samstag soll er in Washington mit seinem kosovarischen Amtskollegen Hashim Thaçi reden.

Der Gastgeber dort ist der ehemalige US-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, Sondergesandter des amerikanischen Präsidenten Donald Trump  für die Kosovo-Frage. Die gängigste These: Grenell ist es wichtig, mit einer Einigung zwischen Serbien und Kosovo seinem Chef Trump wenigstens einen außenpolitischen Erfolg vor den Präsidentschaftswahlen in den USA zu bescheren.

Die Frage bleibt: Wurden die Corona-Zahlen verfälscht? "Alle Funktionäre in Serbien sind dem Präsidenten loyal ergeben, auch Epidemiologen", sagt der Journalist Tešić. "Die Vertuschung des wirklichen Infektionsgeschehens konnte ohne Vučićs Wissen nicht passieren."

Auch Tennis-Profi Djoković infiziert

Der EU-Beitrittskandidat Serbien wird in Deutschland wegen Corona schon als "Risikoland" eingestuft, zusammen mit 130 weiteren Staaten. Reist man aus Serbien nach Deutschland ein, muss man in aller Regel in eine zweiwöchige häusliche Quarantäne.

Adria-Tour 2020: Novak Djoković (re.) und FreundeBild: Getty Images/A. Isakovic

Der Epidemiologe Branislav Tiodorović will nicht verneinen, dass die Lage wieder eskaliert. "Die sportlichen Massenveranstaltungen haben dazu beigetragen, aber auch kleinere Partys in geschlossenen Räumen - und das alles ohne Mundschutz."

Am Dienstag dürften auch die Skeptiker in Serbien erfahren haben, dass Corona jeden treffen kann. Der beste Tennisspieler der Welt, Novak Djoković, jedermanns Liebling in Serbien, wurde positiv getestet. Djoković steht am Pranger, weil er Turniere in Belgrad und im kroatischen Zadar (Adria-Tour 2020) organisierte, wo sich auch andere bekannte Spieler angesteckt haben.

Der Krisenstab reagierte am Dienstag lediglich mit der Einführung der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln. In anderen geschlossenen Räumen ist das nur empfohlen.

Mitarbeit: Jelena Djukić-Pejić (Niš), Ivica Petrović (Belgrad)