1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikSerbien

Serbien: Massenproteste nach Amokläufen

9. Mai 2023

Zwei Amokläufe innerhalb einer Woche entwickeln sich in Serbien zum Politikum. Präsident Aleksandar Vucic antwortet mit Diffamierungen gegenüber oppositionellen Demonstranten.

Serbien | Proteste gegen Gewalt in Belgrad
Belgrad: Massenproteste gegen Gewalt (8.05.2023)Bild: Zorana Jevtic/REUTERS

"Die Menschen in Serbien sind auch ohne das, was passiert ist, nicht besonders glücklich", sagt die 33-jährige Verkäuferin Ana Pavic, die schwanger und mit ihren zwei kleinen Kindern in der Protestkolonne mit dabei ist. "Hinzu kommt noch, dass das System versagt, wenn so etwas passiert."

Mit "so etwas" meint Pavic die zwei Amokläufe von vergangener Woche. Am Mittwoch (3.05.2023) hatte ein 13-jähriger Junge acht seiner Mitschüler und den Hausmeister in einer Belgrader Grundschule erschossen. Am Donnerstag (4.05.2023) feuerte ein 21-Jähriger wahllos auf Menschen in mehreren Dörfern südlich von Belgrad. Die Bilanz diesmal - acht Tote. Deswegen ist Ana Pavic in Belgrad auf die Straße gegangen, zusammen mit zigtausenden Demonstranten. Auch in anderen Städten gab es Protestkundgebungen. Was denn in Serbien gescheitert sei, fragt sie der DW-Reporter? "Alles. Justiz, Mitleid, einfach alles. Wir müssen endlich etwas ändern."

Vucic spricht von "Feiglingen"

Den friedlichen Protest am Montagabend (8.05.2023) hatten mehrere ideologisch grundverschiedene Oppositionsparteien organisiert - von links-grün bis rechts-nationalistisch. Eine geballte Herausforderung für die regierende konservative "Serbische Fortschrittspartei" und deren starken Mann, den Staatspräsidenten Aleksandar Vucic.

Proteste in Belgrad (8.05.2023): Ein Ruf nach "Liebe, Mitleid und Hilfsbereitschaft"Bild: Zorana Jevtic/REUTERS

Seit elf Jahren regiert Vucic das Balkanland mit eiserner Hand, mal als Regierungschef, mal als Staatspräsident. Dabei hält er die meisten Medien an der kurzen Leine. Vucic laviert zwischen EU und Russland, innenpolitisch setzt er auf Selbstdarstellung.

Seit dem ersten Amoklauf am vergangenen Mittwoch hat sich der Präsident bereits viermal an sein Volk gewandt. Und dabei auch gegen seine Kritiker ausgeteilt. Die Opposition habe "die Gefühle der Menschen brutal missbraucht", so Vucic nach dem Protest als Gast im pro-russischen TV-Sender "Happy": "Ich werde vor diesen Feiglingen nicht wegrennen", donnerte er. "Wenn nötig, werden wir Neuwahlen auf allen Ebenen haben."

Vorgezogene Wahlen hat Vucic bereits mehrmals zu seinem politischen Machterhalt ausgerufen. Und damit Erdrutschsiege gegen eine zersplitterte Opposition erzielt. Die Vorwürfe gegen ihn sind massiv: Seine Fortschrittspartei verteile Jobs, kaufe Stimmen, kontrolliere Medien, missbrauche staatliche Ressourcen für eigene Interessen. Die Opposition spricht von "state capture", einem "vereinnahmten Staat".

"Klima der Gewalt"

Jetzt könne es für Vucic unangenehm werden, meinen Beobachter, weil sich nach den zwei Tragödien in der Bevölkerung Trauer und Wut mischten. Viele machten für die Massaker ein "Klima der Gewalt" verantwortlich, das von regierenden Politikern und gleichgeschalteten Medien geschürt werde. So zeigen die "Haussender" des Präsidenten, "Pink" und "Happy", ununterbrochen Reality-Shows mit viel Streit, Schimpfwörtern und häuslicher Gewalt. Oppositionspolitiker, unabhängige Journalisten und Andersdenkende werden ständig als "ausländische Spione" oder "Serbenhasser" dämonisiert.

Pressekonferenz des Präsidenten Aleksandar Vucic nach dem Amoklauf an einer Schule in Belgrad (3.05.2023)Bild: Darko Vojinovic/AP Photo/picture alliance

"Man kann aber Menschen, die eine solche Politik nicht akzeptieren, nicht zum Schweigen bringen", so der grüne Abgeordnete Djordje Pavicevic am Rande des Protests in Belgrad gegenüber der DW. "Die Menschen glauben, dass jemand die Verantwortung übernehmen muss." Bisher ist nur Bildungsminister Branko Ruzic zurückgetreten. Die Demonstranten verlangen aber den Rücktritt weiterer Staatsfunktionäre sowie ein Verbot der Reality-Shows und den Entzug der Lizenz für die beiden TV-Sender.

Natürlich sei die Regierung für die Amokläufe nicht direkt verantwortlich, meint der Politologe Dusan Milenkovic. "Aber die Menschen haben Angst und suchen verständlicherweise nach Schuldigen." In Systemen, in denen die Regierung die ganze Gesellschaft kontrolliere, sei es nur logisch, dass sie als Hauptschuldiger angesehen werde, so Milenkovic.

Weitere Proteste geplant

Es fällt auf, dass auch eine Woche nach dem Amoklauf an der zentral gelegenen Belgrader Schule weder Vucic noch die Ministerpräsidentin oder Belgrads Bürgermeister den Tatort aufgesucht haben, um dort der Opfer zu gedenken. Rund um die Schule liegen tausende weiße Lilien und Rosen auf dem Asphalt, Kerzen brennen Tag und Nacht.

Trauerbekundungen nach dem Amoklauf an einer Schule in Belgrad (3.05.2023)Bild: Antonio Bronic/REUTERS

Beobachter glauben, dass Vucic sich ungern unter Menschen begibt, die nicht seine eigenen Leute zusammengetrommelt haben. Was, wenn einige Kinder ihm etwas zurufen würden? Kinder kann man nicht so einfach als "ausländische Söldner" oder "politische Hyänen" abtun.

Obwohl Serbien die meisten legalen und illegalen Waffen pro Kopf in Europa hat und häusliche Gewalt und Bandenkriminalität zum Alltag zählen, sind Amokläufe äußerst selten. Jetzt sitzt der Schock tief, und das Thema ist endgültig zum Politikum geworden. Die Opposition gibt der Regierung Zeit bis Freitag (12.05.2023), ihre Forderungen zu erfüllen. Doch damit rechnet niemand, dass das passiert. An diesem Tag soll es deswegen erneut Massenproteste in Belgrad geben. Wie die DW aus Oppositionskreisen erfuhr, herrscht keine Einigkeit darüber, ob man abermals zum friedlichen Protestmarsch aufrufen oder mit Straßensperren und Blockaden regierungstreuer Fernsehsender eine härtere Gangart einschalten solle.

In den vergangenen Jahren gab es mehrere große Protestwellen gegen Vucic, etwa gegen den geplanten Abbau von Lithium in Westserbien oder gegen die strengen Lockdowns während der Pandemie. Doch die Regierung hätten diese Proteste nicht erschüttern können, so der Politologe Milenkovic. In einem Land mit unfairen Wahlen und gleichgeschalteten Medien sei es schwer, etwas in Bewegung zu setzen. Man dringe einfach nicht zu den Wählern durch. "Ich befürchte, auch diesmal wird es nicht anders sein", so Milenkovic.