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Massenproteste in Serbien vor neuem Höhepunkt?

Nemanja Rujevic (Belgrad)
Veröffentlicht 5. Juni 2025Zuletzt aktualisiert 6. Juni 2025

Die anhaltenden Proteste der Studierenden bringen Serbiens Regierung immer weiter in die Defensive. Neuwahlen lehnt Präsident Aleksandar Vucic jedoch nach wie vor ab. Der zivile Ungehorsam soll weitergehen.

Menschen in gelben Westen laufen auf einer Straße, über ihnen sind Fahnen und Transparente zu sehen
Massenprotest in Belgrad am 1. Juni 2025 - sieben Monate nach der Tragödie am Hauptbahnhof von Novi SadBild: Darko Vojinovic/AP Photo/picture alliance

Reporter sind nicht willkommen im Pionierpark von Serbiens Hauptstadt Belgrad. Eingeklemmt zwischen dem Präsidentenpalast und dem Parlament kampieren angebliche "Studenten, die lernen wollen". Doch serbische Medien haben längst enthüllt, dass sich unter ihnen viele ältere Menschen befinden - bezahlt, um loyales Volk zu mimen.

"Ihr dürft hier nicht sein. Gleich kommen Jungs, um euch rauszubringen", sagt ein Mann in Jogginganzug und Hausschuhen dem DW-Reporter. Die "Jungs", das sind zwielichtige Typen oft mit Verbindungen ins kriminelle Milieu, die hier eine Art Sicherheitsdienst bilden.

Das Camp der Unterstützer der serbischen Regierung im Zentrum Belgrads aus der VogelperspektiveBild: Spasa Dakic/SIPA/picture alliance

Dieses wilde Lager, von der Regierung erwünscht und von der Polizei geduldet, blockiert weiterhin das Zentrum Belgrads. Und es ist Sinnbild für das, was sich in Serbien seit Monaten abspielt.

Entstanden ist es als Antwort auf die studentischen Universitätsblockaden und die größten zivilen Proteste in der Geschichte Serbiens. Im Lager: die "Gegenstudenten" - die Gegner der protestierenden Studierenden.

Vucic dämonisiert Studenten

Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und seine Serbische Fortschrittspartei (SNS) bemühen sich, die echten Proteste als "farbige Revolution" darzustellen, die aus dem Ausland organisiert wird. Als Bremsklotz für Serbiens Entwicklung, als lästigen Störfaktor für die einfache Bevölkerung. Die rebellierenden Studenten und die Opposition fordern nun Neuwahlen - Vucic aber denkt nicht daran, diesen Wunsch zu erfüllen.

Serbiens Präsident Aleksandar Vucic bei einer Pressekonferenz in Belgrad im Februar 2025Bild: Attila Kisbenedek/AFP/Getty Images

"Uns [der Vucic-Partei SNS; Anm. d. Red.] passen Wahlen jetzt gut - aber nicht dem Staat. Das können sie nicht begreifen, sie interessieren sich nur dafür, wie sie an mehr Geld kommen, wie sie in ihrer schicken Blase angesagt bleiben. Den Staat haben sie nie als ihr Anliegen erkannt, das Volk schon gar nicht", erklärte der Präsident.

Die Proteste begannen vor sieben Monaten, nachdem das schlecht renovierte Vordach des Bahnhofs in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, einstürzte und dabei 16 Menschen ums Leben kamen. Kritiker sehen die Tragödie als Resultat von Schlamperei am Bau und Korruption in der Verwaltung.

Mittlerweile sind Serbiens Universitäten seit sechs Monaten blockiert. Tausende große und kleine Proteste wurden bisher abgehalten, Studenten liefen zu Fuß nach Brüssel und fuhren mit dem Rad nach Straßburg - mit Botschaften für die Europäische Union (EU). Auch das staatliche Fernsehen RTS, das die Studenten als Sprachrohr der Regierung sehen, wurde tagelang blockiert.

Studenten haben die Gesellschaft aufgeweckt

Doch nun stehen die Proteste an einem Wendepunkt. Das akademische Jahr droht zu scheitern. Der Staat zahlt keine Gehälter an die Lehrenden, da sie "nicht arbeiten". Es ist unklar, wie die Abiturienten sich überhaupt an Unis einschreiben sollen.

"Es ist schwer zu sagen, ob die Regierung den Hauptstoß der Proteste unbeschadet überstanden hat", sagt Politikwissenschaftler Filip Balunovic.

Der serbische Politikwissenschaftler Filip BalunovicBild: N. Rujević/DW

Megaprojekte, die als Brutstätte der Korruption gelten, würden jedenfalls weitergeführt - etwa die Vorbereitungen für die Weltausstellung Expo, die Belgrad 2027 ausrichten soll. Oder Pläne, Deutschland mit Lithium aus Westserbien zu versorgen - trotz massiven Widerstands der Bevölkerung.

"Gefühlt hat sich dennoch vieles verändert - mehr Menschen sprechen offen gegen die Regierung, die Taktik der Studenten ist klug. Deshalb hält sich diese Mobilisierungswelle so lange. Das Bewusstsein der Gesellschaft - und der Studierenden - wurde transformiert", sagt Balunovic gegenüber der DW.

Geschenke vor Lokalwahlen

Seltene unabhängige Umfragen deuten bisher darauf hin, dass rund zwei Drittel der Bürger Sympathien für die Proteste hegen. Der erste echte Stimmungstest steht an diesem Sonntag bevor, bei Lokalwahlen in den Kleinstädten Zajecar und Kosjeric. Beobachter berichten dort von einer unerträglichen Regierungskampagne, plötzlicher Asphaltierung von Straßen, Geschenke, Wählerbestechung.

Der Oppositionspolitiker Ugljesa Djurickovic aus Zajecar Bild: Jelena Djukic Pejic/DW

Kleine, arme Orte wie Zajecar und Kosjeric galten bislang als Hochburgen der SNS. Kritiker meinen, dort lasse sich am leichtesten manipulieren. "Das ist eine Frage von Leben und Tod", sagt der Oppositionspolitiker Ugljesa Djurickovic aus Zajecar im Gespräch mit der DW. Die Regierung habe keine echte Unterstützung mehr, sondern versuche, "Menschen zu kaufen, zu bedrohen, zu erpressen und zum Wählen zu zwingen".

Kontrolle über Geld und Medien

Seit 13 Jahren regiert Vucic Serbien mit harter Hand, mal als Premier, mal als Präsident. Die Macht seiner Partei gründet auf der Kontrolle über die Vergabe von Jobs im öffentlichen Dienst. Und auf einer gleichgeschalteten Medienlandschaft. Viele Funktionäre pflegen enge Kontakte zur organisierten Kriminalität.

Die Antwort auf die Proteste: ein Mix aus Dämonisierung von Studenten und Professoren, Prügeltrupps und vereinzelten Zugeständnissen. So wurden einige hohe Beamte wegen des Vordach-Einsturzes verhaftet, im Januar trat gar Serbiens Premierminister zurück.

Zurückgetreten: Der serbische Premierminister Milos VucevicBild: Predrag Milosavljevic/Xinhua/picture alliance

Doch Neuwahlen lehnt Präsident Vucic weiterhin ab, obwohl er frühere Krisen mit frühzeitigen Wahlen zu beenden wusste. Die Studenten dagegen wollen eine eigene Bewegung, ohne die unbeliebte Opposition, dafür mit Professoren und bekannten Aktivisten an der Spitze. "Offensichtlich zeigen Umfragen Vucic, dass er einer Wahlliste der Studenten nicht überlegen ist", meint Balunovic. "Alle Versuche, die Studenten zu diskreditieren, waren bisher wirkungslos."

Offiziell ist Serbien Kandidat für eine EU-Mitgliedschaft, faktisch aber tritt das Land auf der Stelle. Die Achillesferse ist die Rechtsstaatlichkeit. Vucics Regime hält die Justiz fest im Griff. Doch bislang bleiben offizielle EU-Vertreter und führende europäische Regierungen auffällig still. Mit einigen von ihnen, etwa mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, trifft sich Vucic regelmäßig, um lukrative Rüstungsdeals und Infrastrukturprojekte wie den Bau einer U-Bahn in Belgrad zu besiegeln.

Studenten kündigen zivilen Ungehorsam an

Laut Balunovic wird das Regime, wann immer gewählt wird, versucht sein, zu offener Gewalt zu greifen, um an der Macht zu bleiben. Er erinnert daran, dass Vucic in den 1990er-Jahren Minister im Regime des Kriegsherrn Slobodan Milosevic war - zu Zeiten brutaler Kriege im ehemaligen Jugoslawien. "Wenn es so weit kommt, dann können auch führende europäische Staaten nicht weiter so beschämend stumm bleiben wie bisher", sagt Balunovic.

Protestierende Studentinnen und Studenten blockieren am 9. Februar 2025 eine Durchgangsstraße in der südserbischen Stadt NisBild: Marko Djurica/REUTERS

Die Studenten halten vorerst an den Blockaden fest, bei Abstimmungen an mehreren Fakultäten sprach sich eine deutliche Mehrheit dafür aus. Die Regierung kann sie nur schwer bekämpfen, weil die Protestierenden keine klaren Anführer haben, die die Boulevardpresse dann in der Luft zerreißen könnte. Die studentische Bewegung in Serbien ist demokratisch und ohne Hierarchie organisiert.

Die jüngste Erklärung der Studierenden klingt entschlossen: Wenn Vucic nicht auf Neuwahlen eingeht, soll eine Welle zivilen Ungehorsams folgen. "Wir werden vor den Institutionen stehen, vor Ministerien, vor den Fernsehsendern, die uns zum Schweigen bringen wollen. Wir werden keinen Bürger stören, sondern die Lüge, die Ungerechtigkeit und die Korruption", verkünden die Studenten.

Was sie genau vorhaben? Das blieb, wie so oft, ein Geheimnis. Eine bewährte Methode, um das Regime Vucic auf dem falschen Fuß zu erwischen.