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Politik

Serbiens Jugend protestiert

5. April 2017

Seit Montag demonstrieren tausende junge Menschen in Serbien gegen "Diktatur" und den Wahlsieg von Aleksandar Vučić. Die Wahlen seien undemokratisch gewesen, glauben sie.

Serbien Proteste in Belgrad
Bild: DW/S. Kljajic

"Vučić, du Dieb, du hast die Stimmen geklaut", ruft die Menge vor dem Parlament. Es ist laut und bunt, Pfeifen und Vuvuzelas, nebeneinander klassische linke Gadgets wie etwa Masken der Gruppe "Anonymous" und Che-Guevara-T-Shirts. Aber auch Farben der Nationalflagge und traditionelle serbische Kopfbedeckungen kann man sehen. Es sind Tausende, meist junge Menschen. Vor allem gingen sie in der serbischen Hauptstadt auf die Straßen, aber auch in anderen Stäten Serbiens gab es Proteste. Sie wurden nicht von langer Hand organisiert, sondern spontan über Facebook vereinbart. "Mir ist übel von dieser Regierung. In kurzer Zeit haben sie so viel Grausames angerichtet", sagt die 18-Jährige Milena und schreit weiter: "Wo sind unsere Stimmen?"

Wie viele hier konnte Milena am vergangenen Sonntag zum ersten Mal mitbestimmen, wer das Land führt. Viele junge und liberale Menschen erlebten eine derbe Enttäuschung – der Regierungschef Aleksandar Vučić feierte einen Erdrutschsieg mit 55 Prozent der Stimmen. Nicht einmal eine Stichwahl wird es geben: der engste Verfolger war der frühere Ombudsmann Saša Janković mit lediglich 16 Prozent. Am Wahltag gab es sporadisch Berichte über Stimmenkauf und über Aktivisten von Vučićs Fortschrittspartei, die akribisch aufschreiben, wer zur Wahl kommt und wer nicht. Angesichts der Proteste gab sich der Premier Vučić erst zurückhaltend: Jeder dürfe demonstrieren, solange alles friedlich verlaufe. 

"Du bist fertig" steht auf dem Transparent in BelgradBild: DW/S. Kljajic

Seit fünf Jahren regiert der ehemalige Radikalnationalist das Balkanland mit eiserner Hand, während er sich nach außen als kooperativer Reformer, der Serbien in die EU führen möchte, stilisiert. Jetzt wechselt der Premier zum Präsidentenposten, obwohl das Staatsoberhaupt laut Verfassung nur symbolische Befugnisse hat. Die Beobachter haben keinen Zweifel: Vučić werde der Strippenzieher bleiben und, ähnlich wie der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan, eine Marionette als Regierungschef installieren. Die einzige Frage scheint zu sein, ob Vučić ganz nach türkischem Vorbild auch eine Verfassungsänderung anstreben wird, um seine Macht offiziell zu untermauern. 

Wie in den Neunzigern

"Er ist ein Diktator, ein Autokrat, ein Despot", sagt Nikola (31). Sein Kumpel Marko ergänzt: "Der Mann ist der größte Lügner in der Geschichte unseres Volkes. Als Präsident, als Premier… wir wissen nicht mehr, was er ist, er hat so viele Funktionen." Seinen Erzählungen über wirtschaftlichen Schwung, Arbeitsplätze und Investitionen glauben sie nicht. Die Demonstranten ziehen dann weiter durch die Regierungsviertel und machen später Halt vor dem Gebäude des öffentlich-rechtlichen Senders RTS.

Das hat schon etwas symbolisches. Viele erinnerten sich sofort an Straßenproteste vor zwanzig Jahren, als der Nationalsender eine Propagandawaffe des Autokraten Slobodan Milošević war. Auch in diesem Wahlkampf haben alle Sender dem Premier Vučić mehr Platz in Nachrichten eingeräumt als den anderen zehn Kandidaten insgesamt. Die Opposition wurde zu einer Art Guerilla-Kampagne in sozialen Netzwerken gezwungen, was vor allem auf dem Lande und unter der älteren Bevölkerung nicht so richtig zieht. Dragica Vuković (70) ist trotzdem auf der Straße: "Ich bin wegen meinen Kindern gekommen. Ein Kind lebt in Wien, das andere schafft es hier kaum über die Runden. Ich möchte nicht, das auch er weggeht", sagt die Rentnerin.

"Wir wollen keine Diktatur" rufen die DemonstrantenBild: DW/S. Kljajic

Darin mag ein Grund liegen, warum ausgerechnet junge Leute ihre Frustration auf den Straßen auslassen: Allein im letzten Jahr verließen rund 40.000 Menschen das Land, überwiegend junge und gut ausgebildete. Sie sehen für sich im Land keine Perspektive. Um in Serbien heute einen Job zu bekommen, muss man oft jemanden bestechen oder das "richtige" Parteibuch besitzen. Auch so ist die Warteliste lang: die regierende Fortschrittspartei hat 600.000 Mitglieder – mehr als zehn Prozent aller Volljährigen. So eine Quote hat nicht einmal die Kommunistische Partei im ehemaligen Jugoslawien geschafft.

"Provokation"

Die Demonstranten zünden Fackeln und blasen in ihre Trillerpfeiffen, als sie neben dem Gebäude des regierungsfreundlichen Boulevardblattes "Informer" vorbeiziehen. Die auflagenstarke Zeitung wollte sofort wissen, worum es hier eigentlich geht: es seien wenige Hundert "alkoholisierte" Jugendliche, die von der Opposition organisiert seien. Das Geld – so das Lieblingsargument auf dem Balkan – komme von dem amerikanischen Milliardär George Soros. "Die Proteste in Serbien sind eine ferngelenkte Provokation. Es ist ein Standardszenario der bunten Revolutionen, um eine legitim gewählte Regierung zu schwächen und das Land zu destabilisieren", meinte auch Sergei Zheleznyak, der russische Abgeordnete aus Putins Partei "Einiges Russland". 

Alles vereint: Serbische Fahnen und Che GuevaraBild: DW/S. Kljajic

Viele Bürger glauben an diese Version. Ein Busfahrer etwa, der gerade seine Schichte beginnen soll: "Ach was! Das sind doch Kinder, sie haben keine Ahnung", sagt er aufgebracht, während seine Kollegen in Bussen hilflos warten, bis die Demonstranten weiter ziehen. "Auch meine Kinder sind mies bezahlt – sollten sie auch auf den Straßen marodieren? Haben diese Kinder überhaupt Eltern und häusliche Erziehung?", fragt der Mann. Auch in Belgrad konnte Vučić etwa 45 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, nur in drei zentralen Bezirken war Janković vorn.

Einige Twitter-Nutzer, die sich gut an Milošević-Zeiten erinnern, glauben, dass die Proteste nicht anhalten werden. Denn für sowas brauche man eine gute Organisation und vor allem konkrete Ziele. Die Jugend in Belgrad und anderen Städten möchte aber alles: unabhängige Berichterstattung, faire Wahlen und vor allem: dass Vučić geht. Es ist nicht wahrscheinlich, dass der starke Mann nachgibt. Die Demonstranten gehen langsam nach Hause mit der Parole: "Wir sehen uns morgen wieder".

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