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Serhij Zhadan: "Literatur kann sehr ehrliche Chronik sein"

Torsten Landsberg
23. Oktober 2022

Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan ist zum Symbol des Widerstands gegen die Invasoren geworden. Die Verleihung des Friedenspreises sieht er als Auszeichnung für sein Heimatland.

Serhij Zhadan steht hinter einem Rednerpult und spricht.
Serhij Zhadan bei der Preisvergabe in der Frankfurter PaulskircheBild: Wolfgang Rattay/REUTERS

Als eine der wichtigsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur wird Serhij Zhadan in diesen Wochen häufig bezeichnet. So treffend diese Beschreibung angesichts seiner Beobachtungen aus dem Kriegsalltag ist, so sehr ist der Autor seit dem 24. Februar 2022 über sein künstlerisches Schaffen hinaus zu einem Symbol für sein Heimatland geworden.

Entsprechend ordnet der 48-Jährige die Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels selbst ein, die Serhij Zhadan an diesem Sonntag (23. Oktober) erhalten hat: "Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Organisatoren sich entschieden haben, den Preis dieses Jahr an die Ukraine zu geben", sagte Zhadan vorab im Interview mit dem DW-Magazin "Kultur.21".

Friedenspreis in Kriegszeiten

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Er verstehe die Verleihung als solidarische Geste, sagte der Schriftsteller und Musiker. "Ich fühle mich nicht als Autor persönlich bestätigt und ich möchte das auch nicht mit meinen persönlichen Ambitionen in Verbindung sehen, sondern ich sehe den Preis als eine Unterstützung für die ukrainische Literatur." 

In seiner Dankesrede in der Paulskirche sagte Zhadan: "Es ist traurig und bezeichnend, dass wir über den Friedenspreis sprechen, während in Europa wieder Krieg herrscht." Der Krieg verändere das Gefühl für Zeit und Raum. Wer sich im Raum des Krieges befände, mache keine Zukunftspläne, erklärte er. Zudem schilderte er die schmerzhafte Erfahrung, wie der Druck des Krieges Sprache in ihrer gewohnten Form verändere und beschädige. Es sei unerträglich, die Sprache als vertrautes Mittel zu verlieren.

Tote auf den Straßen

Die Sinnhaftigkeit der Kultur sei ihm nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine nicht sofort bewusst gewesen. "Wenn man tote Zivilisten auf der Straße sieht und all diese schrecklichen Dinge, dann fühlt man sich nicht animiert, ein Gedicht zu schreiben."

Erst als er mit seiner Band von Soldaten an der Front und von Ärzten in Krankenhäuser eingeladen worden sei, sei ihm klar geworden, "dass es unheimlich wichtig ist, dass diese kulturellen Aktivitäten stattfinden, dass Literatur, Theater, Musik stattfindet, weil das für die Menschen eine Verbindung mit dem normalen Leben schafft", sagte Zhadan, der im Dezember auch den Hannah-Arendt-Preis erhalten wird.

In U-Bahnhöfen spielten "Zhadan i Sobaky" (Zhadan und die Hunde) vor und für Menschen, die dort Schutz vor den russischen Angriffen suchten. Ihre Musik vereint Rock, Ska und Punk und soll auf der aktuellen Europa-Tournee der Band auch den Exil-Ukrainern Mut geben. "Auf der Bühne ist es eigentlich ganz normal", sagte Zhadan der DW. "Wir wissen, dass es den Leuten wichtig ist, Gemeinschaft zu erleben, um die Verbindung nicht abreißen zu lassen." Für die Dauer ihrer Konzerte gebe es einen Hauch von Normalität.

Kriegsbeginn schon 2014 

Serhij Zhadan wurde 1974 im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren, in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, studierte er Literaturwissenschaften, Germanistik und Ukrainistik und promovierte über den ukrainischen Futurismus. In den 1990er-Jahren veröffentlichte er seine ersten Gedichte und wirkte an der Organisation von Literatur- und Musikfestivals mit.

Von Zhadan erschienen zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Obwohl er in einem überwiegend russischsprachigen Umfeld aufwuchs, schreibt er auf Ukrainisch. Sein Buch "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (erschienen 2014) erhielt mehrere Preise, die ukrainische BBC kürte das Werk zum ukrainischen Buch des Jahrzehnts.

In seinen Tagebuch-Einträgen erzählt Zhadan von den Begegnungen in seiner Heimatstadt: "Himmel über Charkiw"

Die deutsche Fassung des 2018 veröffentlichen Romans "Internat" erhielt den Übersetzer-Preis der Leipziger Buchmesse. Darin reflektiert Zhadan, der sich 2013 an den pro-europäischen Maidan-Protesten beteiligt hatte und von prorussischen Separatisten krankenhausreif geschlagen wurde, den Krieg im Donbass nach 2014: Die Geschichte eines Lehrers, der im umkämpften Terrain seinen Neffen von der Schule abholt, ist eine Allegorie auf ein apokalyptisches ukrainisches Grenzgebiet unter russischer Bedrohung.

In vielen seiner Interviews weist Zhadan heute darauf hin, dass der Westen nicht habe sehen wollen, was den Ukrainern schon lange bewusst war: Der Krieg begann nicht erst im Februar dieses Jahres, sondern schon 2014, als Russland die Krim und Gebiete im Donbass besetzte.

Applaus gab es auch von Kulturstaatsministerin Claudia RothBild: epd

Chronist des Kriegsalltags

"Die Literatur kann eine sehr genaue und ehrliche Chronik sein, ein Instrument, mit dem die Ukraine versucht, sich verständlich zu machen", sagte Zhadan der DW. Der Schriftsteller blieb auch nach der Invasion im umkämpften Charkiw im Osten des Landes. Laut eines aktuellen UN-Berichts sind rund 140.000 Menschen in der Stadt auf Hilfe angewiesen. Zhadan verteilte seit der Invasion im Februar Lebensmittel, sammelte Geld- und Sachspenden, brachte Menschen aus der Stadt und unterstützte das ukrainische Militär.

Auf seinen Social-Media-Kanälen begann er, Tagebuch zu führen, seine Wege und Begegnungen in der Stadt zu dokumentieren. Eine Sammlung seiner Einträge ist gerade als Band "Himmel über Charkiw" erschienen. Zum Foto mit einem gespendeten Auto schreibt er: "Jeder Cent von uns, jede gute Tat und großzügige Geste legt den Grundstein für den zukünftigen Sieg."

Und wie verhält es sich mit der Verleihung des Friedenspreises an einen Autor, der die militärischen Einheiten seiner Heimat unterstützt? "Ich bin kein Anhänger des Krieges", sagte Zhadan, "ich wünsche mir nichts sehnlicher in meinem Leben, als dass der Krieg zu Ende ist." Wer gegen die ukrainische Armee demonstriere, fordere sie aber im Prinzip zur Kapitulation auf. "Und ich sehe, was mit den Ukrainern passiert ist auf den Territorien, wo es keine ukrainische Armee gegeben hat. Dort haben die Russen Massengräber hinterlassen."

Die Jury des Friedenspreises würdigte Zhadans "humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft". In seiner Literatur finde er eine eigene Sprache, die den Lesern vor Augen führe, was sie lange nicht hätten sehen wollen. Poetisch und radikal verfolge der Schriftsteller, "wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen".

Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt Serhij Zhadan an diesem Sonntag (23. Oktober) in der Frankfurter Paulskirche. Der Beitrag wurde anschließend leicht aktualisiert.

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