Seveso 35 Jahre nach dem Chemieunfall
10. Juli 2011Die Wolke, die am Mittag des 10. Juli 1976 über der Chemiefabrik ICMESA aufsteigt, enthält TCDD. Das ist die Abkürzung für 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-Dioxin, umgangssprachlich: Dioxin. TCDD ist 10.000 Mal giftiger als Zyankali. Es schädigt das Erbgut und kann Krebs erzeugen. 25 bis 60 Mikrogramm pro Kilogramm reichen aus, um eine Ratte zu töten. Ein bis zwei Kilogramm Dioxin entweichen aus dem Reaktionskessel 101 der Fabrik, die Ausgangsstoffe für Desinfektionsmittel und Parfums herstellt.
Tiere sterben, Menschen erkranken
Erst sterben die Hühner, dann Katzen und Kaninchen, danach die Schafe. Sie magern in einem nie gesehenen Tempo bis auf die Knochen ab und verenden qualvoll. Unter den Einwohnern von Seveso wächst die Angst. “Die Wolke ist am Samstag ausgetreten, eine Woche später bekam ich Pusteln im Gesicht, die schrecklich juckten und eiterten“, erzählt Stefania Senno. Im Juli 1976 ist sie zwei Jahre alt und ihr Foto geht um die Welt. Es zeigt ein kleines Mädchen mit entstelltem Gesicht und Tränen in den Augen.
Der Hautausschlag stellt die Ärzte vor ein Rätsel. Sie verordnen Salben, Kopfbandagen und wissen doch nicht, was das Dioxin genau anrichtet in dem kleinen Körper. Mehr als 30.000 Menschen sind in Kontakt mit Dioxin gekommen. Sie alle müssen zur Blutuntersuchung ins Krankenhaus von Desio. „Als die Kaninchen starben, dachten wir, bald werden auch Menschen sterben“ erinnert sich Paolo Mocarelli. Der Toxikologe leitete die Blutuntersuchungen: „Tagsüber entnahmen wir Blut, nachts untersuchten wir es. Durch die Fachliteratur wussten wir, dass Dioxin die Leber schädigt. Aber wir fanden keine Zeichen von Leberschäden. Wir waren überrascht.“
Die Wirkung von Dioxin auf den Menschen hat sich als nicht so verheerend erwiesen wie damals befürchtet. So tun als wäre nichts passiert, kann man nach Meinung von Paolo Mocarelli jedoch nicht: „ Dioxin ist krebserregend und in der Tat: es hat einen Anstieg von Tumoren gegeben in Seveso. Ein Anstieg heißt: einige Tumore mehr als im Durchschnitt, keine hundert mehr.“
Seveso hadert mit seiner Vergangenheit
Seveso ist heute ein Ort wie viele andere. Das ehemalige Sperrgebiet süd-östlich des Fabrikgeländes ist inzwischen ein Naherholungsgebiet mit Wiesen, Bäumen und Parkbänken. Auf Schautafeln wird erklärt, was hier am 10. Juli 1976 geschah. Doch darüber reden will kaum jemand. Max Fratter ist eine Ausnahme. Er führt regelmäßig Schulklassen durch den Park.
„Dort drüben wo der Sportplatz beginnt, stand die Fabrik. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich das sehe“ sagt der 41jährige und zeigt auf einen Hügel, der seltsam wirkt in der flachen Parklandschaft. Unter dem Gras verbergen sich zwei riesige Betonwannen mit der abgetragenen verseuchten Erde, der demontierten Fabrik und dem Schutt der Häuser aus der Sperrzone, die allesamt abgerissen wurden.
Max Fratter besitzt kein einziges Kinderfoto von sich. Alles mussten seine Eltern zurücklassen, als sie gemeinsam mit fast 800 weiteren Familien aus der nächsten Umgebung der Fabrik evakuiert werden. „Ich erinnere mich an den letzten Tag im Kindergarten. Meine Mutter sagte mir, verabschiede dich von deinen Freunden, du wirst sie nicht mehr wiedersehen“ erzählt Stefania Senno. Ihre Eltern haben Seveso nach dem Chemieunfall verlassen und versucht, zu vergessen. Stefania kann den 10. Juli 1976 nicht aus ihrem Gedächtnis streichen, sie zeigt auf ihr Gesicht. Von dem furchtbaren Hautausschlag sind Narben, fein und rund wie Stecknadelstiche, geblieben.
Autorin: Kirstin Hausen
Redaktion: Annamaria Sigrist