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GesellschaftDeutschland

Oft vertuscht: Sexualisierte Gewalt an deutschen Schulen

Helen Whittle
8. Dezember 2025

Opfer sexualisierten Missbrauchs werden an deutschen Schulen immer noch allzu häufig im Stich gelassen. Eine Studie macht deutlich, wie allgegenwärtig Missbrauch ist und wie selten er ernst genommen wird.

Schüler auf dem Pausenhof einer Schule, nur die Beine sind sichtbar
Schüler auf dem Pausenhof einer Schule - für viele kein sicherer OrtBild: Harald Oppitz/KNA/picture alliance

Ein bis zwei Kinder pro Schulklasse seien betroffen von sexualisierter Gewalt durch Lehrkräfte, andere Schulbedienstete oder andere Schülerinnen und Schüler. Das zumindest ist die Schätzung der Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Eine Studie im Auftrag des Gremiums kommt zu dem Schluss, dass Kinder, die in Schulen Opfer sexualisierter Gewalt werden, vom Schulsystem regelmäßig im Stich gelassen werden - mit schwerwiegenden Konsequenzen für das künftige Leben und den beruflichen Werdegang.

"Oft gab es Mitwissende, die Kollegialität vor den Schutz der Kinder gestellt haben, Übergriffe ignoriert oder sogar vertuscht haben, um den Ruf der Schule zu schützen", erklärten Mitglieder der Aufarbeitungskommission kürzlich bei der Präsentation der Fallstudie. "Betroffene reagierten darauf häufig mit eigenen Strategien, um der Gewalt zu entkommen, und schwänzten beispielsweise die Schule." Einige wiederholten gar absichtlich eine Jahrgangsstufe, um möglicherweise einen Wechsel zu einer neuen Lehrkraft zu erreichen und den Missbrauch zu beenden.

Die Autorinnen und Autoren der Studie evaluierten 133 Berichte und Anhörungen von Menschen, die an der Schule sexualisierte Gewalt erlebt hatten. Die Berichte stammten aus den Jahren 1949 bis 2010 und umfassten auch Berichte aus der früheren DDR. Bei fast 80 Prozent handelte es sich um weibliche Überlebende, während 98 Prozent der Täter männlich waren. Fast 40 Prozent der Tatpersonen waren Lehrkräfte, ein Viertel gehörte zur Schülerschaft.

Fast 70 Prozent der Opfer, deren Fälle in der Studie betrachtet wurden, vermuteten, dass andere Personen an der Schule von der sexualisierten Gewalt wussten. "Alle Betroffenen berichteten uns jedoch, dass es für sie extrem schwierig war, kompetente Hilfe und Unterstützung zu erhalten", sagt Julia Gebrande, Vorsitzende der Aufarbeitungskommission.

Der Ruf zählt mehr als Gerechtigkeit

Die Studie enthält einen exemplarischen Fall aus den 1990er Jahren: Bei einem Lehrer gingen Beschwerden über einen Sportlehrer ein, der immer wieder die Umkleidekabinen der Mädchen betrat. Der zur Hilfe Gerufene beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, und sah seinen Kollegen, wie er ohne Anzuklopfen in die Umkleidekabinen der Sechstklässlerinnen ging.

Als er seine Beobachtungen der Schulverwaltung meldete, wurde ihm gesagt, dass er sich irren müsse. So etwas würde sein Kollege "niemals machen". Er sei "bei diesem Thema einfach übersensibilisiert". Es folgte der Vorwurf, er würde den Ruf der Schule beschädigen. Nicht nur wurden die Vorfälle nie untersucht. Der Lehrer, der sie gemeldet hatte, wurde sogar aufgefordert, sich persönlich bei seinem Kollegen zu entschuldigen.

Die Scham verhindert oft, dass Betroffene Hilfe suchen Bild: Jan Woitas/dpa/picture alliance

"Es ist eine Taktik der Täter, sich selbst als sehr engagiert und hilfsbereit zu präsentieren. Sie machen sich selbst unverzichtbar. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass so ein netter Kollege Kinder missbrauchen könnte", erläutert Gebrande.

Odenwaldschule: Hunderte von Missbrauchsfällen

Große öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr das Thema sexualisierte Gewalt an deutschen Schulen, als die "Berliner Morgenpost" 2010 von Missbrauchsfällen am Canisius-Kolleg, einer katholischen Privatschule in Berlin, berichtete. Hunderte von Opfern an anderen Einrichtungen, insbesondere von der Odenwaldschule, einem privaten Internat in Hessen, meldeten sich daraufhin mit ihren eigenen Geschichten.

Der Skandal führte zur Ernennung der ersten Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (UBSKM) durch die deutsche Regierung im Jahr 2010. 2016 wurde die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs geschaffen.

In einer in den Jahren 2023 und 2024 durchgeführten Studie befragte das Deutsche Jugendinstitut, eines der größten europäischen sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute, 1600 Jugendliche. Die Hälfte von ihnen gab an, im vorangegangenen Jahr sexualisierte Gewalt erlebt zu haben.

Umfassende empirische Daten über sexualisierte Gewalt an deutschen Schulen fehlen jedoch. Entsprechende Untersuchungen wurden bisher an lediglich zwei staatlichen Schulen in Deutschland durchgeführt. "Es gibt noch immer keine Strukturen für den Umgang mit diesem Thema in den Schulen oder in den Schulaufsichtsbehörden", beklagt Gebrande. "Darum hätten wir gerne, dass es zu einem wesentlichen Bestandteil der Lehrerausbildung wird."

"Alleingelassen, ausgeliefert und hilflos"

Die aktuelle Studie lenkt die Aufmerksamkeit auf ein weiteres großes Problem: Vielen Opfern fehlen die Worte, um zu beschreiben, was ihnen zugestoßen ist. Häufig sind sie selbst nicht in der Lage, zu erkennen, dass es sich um sexualisierte Gewalt handelt.

Eine Frau mit dem Namen Julia berichtete der Kommission, wie sie in den 1970er Jahren, im Alter von nur 13 Jahren, eine mehrere Jahre dauernde sexuelle Beziehung mit ihrem anfangs 32-jährigen Kunstlehrer begann. Erst Jahre später, als sie einen Zeitungsartikel über einen ähnlichen Fall las, sei ihr plötzlich klar geworden, "dass es sexueller Missbrauch war, was mir passiert ist".

Jeder zweite junge Mensch hat einer Studie zufolge schon sexuelle Gewalt erfahrenBild: Depositphotos/IMAGO

In einem weiteren Fall aus den 1990ern wurde Lea, eine Transfrau, die damals noch als Junge lebte, wiederholt von einer Gruppe männlicher Zehntklässler verbal, körperlich und sexualisiert attackiert. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um sich einem Lehrer anzuvertrauen, konnte die sexualisierte Gewalt aus Scham jedoch nicht beschreiben. Der Lehrer bot ihr keine Unterstützung an, sondern sagte ihr, die Kinder sollten das unter sich klären. Die Einmischung durch einen Erwachsenen würde es nur noch schlimmer machen.

Ihr wurde gesagt, Grobheiten und Konflikte seien in diesem Alter bis zu einem bestimmten Punkt normal, gerade unter Jungen. "Ich fühlte mich alleingelassen, ausgeliefert und hilflos", beschrieb sie der Kommission. "Für die Täter hatten die Taten keine offensichtlichen Konsequenzen - erst recht keine direkten. Ihr Verhalten wurde sogar noch dadurch bestätigt, dass ihnen nichts entgegenstand."

Neues Gesetz gegen sexualisierte Gewalt an Kindern

Am 1. Juli ist ein Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Kraft getreten. Es sieht unter anderem die Einrichtung eines Betroffenenrats vor. Ab 2026 soll jährlich eine Studie durchgeführt werden, die feststellen soll, wie verbreitet sexualisierte Gewalt unter 14- und 15-Jährigen ist.

Gebrande hofft, dass die Studie wie auch die institutionellen Veränderungen Menschen Mut geben. Damit sie gegen sexuelle Gewalt an Kindern in ihrem Umfeld vorgehen, eigene Erlebnisse während der Schulzeit aufarbeiten und Betroffenen zuhören. Bisher sei dies kaum der Fall: "Unserer Erfahrung nach kommt es nur dann zu Untersuchungen, wenn Opfer über die Medien Druck auf Institutionen ausüben."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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