Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand
10. Juni 2011Ängstliche, aber auch aufgeheizte Proteste der Bevölkerung gegen Sexualstraftäter, die nach der Haft auf freien Fuß gelassen wurden. Brave Bürger skandieren Parolen wie "Kinderschänder raus" und protestieren vor den Häusern der Freigelassenen. Manche erwarteten entsprechende Freilassungen und nachfolgende Proteste auch, als das Bundesverfassungsgericht Anfang Mai 2011 verkündete: Die Sicherungsverwahrung von hochgefährlichen Straftätern ist verfassungswidrig und muss neu geregelt werden.
Ungewisse Zukunft
Die Sicherungsverwahrten der JVA Aachen jedenfalls haben das Urteil aus Karlsruhe anfangs mit Freude aufgenommen, sagt die Leiterin der Abteilung Sicherungsverwahrung der JVA Aachen, Monika Isselhorst-Zimmermann. Aber die sei mittlerweile der Depression gewichen.
Denn die Verwahrten wissen ebenso wie die Leitung der JVA nicht, was die Neuregelung bringen wird. Schließlich könne man sich in den zwei Jahren, in denen der Gesetzgeber tätig werden muss, viele Gedanken machen, sagt Monika Isselhorst-Zimmermann. Unklar sei, wer entlassen werde und wer bleibe. Denn die Möglichkeit gebe es ja weiterhin. Und wer entlassen würde, müsse planen, wohin er gehe, wie er nach langjähriger Verwahrung leben wolle. In der Vergangenheit seien Bemühungen, ehemals Verwahrte in der Freiheit unterzubringen, mit vielen Schwierigkeiten verbunden, sagt Monika Isselhorst. Und die Sicherungsverwahrten wüssten schließlich auch, dass manchmal niemand auf sie warte und dass die Gesellschaft sie eigentlich nicht haben möchte.
Sicherungsverwahrung von Strafhaft abgrenzen
Die Forderungen aus Karlsruhe besagen: Den Untergebrachten solle eine realistische Perspektive auf Wiedererlangung der Freiheit eröffnet werden. Die Sicherungsverwahrung soll sich deshalb deutlich von der Strafhaft unterscheiden. Der Verwahrte soll zwar sicher verwahrt werden, um die Bevölkerung vor ihm zu schützen. Gleichzeitig soll er in seinem Umfeld aber möglichst wenig Begrenzung erfahren, denn er hat ja seine Strafe bereits abgesessen.
Dem stimmt auch Monika Isselhorst-Zimmermann zu und beschreibt Umsetzungsmöglichkeiten wie größere Räumlichkeiten, eine lockerere Alltagsgestaltung mit möglichst großen Freiräumen im Inneren. Ein Ausgang könne dabei eher eng gehalten werden. Sie spricht davon, die Einkaufsmöglichkeiten zu erweitern, eigene Möblierungen zuzulassen, aber auch die Bezahlung der Arbeit zu verändern.
Europäische Regelungen
Ein solches zweispuriges System, in dem bestimmte, besonders gefährliche Straftäter nach der regulären Strafhaft im Rahmen einer Maßregel zur Sicherung und Besserung verwahrt bleiben, haben Österreich, Deutschland und die Schweiz, aber auch andere europäische Staaten. Das sagt der Jurist Hans-Georg Koch vom Max-Planck-Institut für internationales Strafrecht.
Die Slowakei und Frankreich hätten es relativ neu eingeführt. Die Italiener hätten es auch, auch wenn sie bereits auf der Ebene der Strafe sehr weit gehen könnten und die Sicherungsverwahrung im Nachhinein daher nicht unbedingt bräuchten.
Der Privatdozent leitet ein Forschungsprojekt in diesem Bereich, in dem die fraglichen Regelungen in 14 vor allem europäischen Ländern von Portugal bis zur Türkei und von Dänemark bis Italien untersucht wurden. Er weist darauf hin, dass es gegen das Rückwirkungsverbot verstößt, einem Strafgefangenen eine Sicherungsverwahrung nicht schon im Urteil, sondern erst später während oder nach der Haft anzudrohen.
Auch Sicherungsverwahrung ist Strafe
In den meisten europäischen Ländern müsse der Richter, der über die Tat urteilt, auch entscheiden, ob er im Urteil eine Sicherungsverwahrung androht, falls der Angeklagte sich im Strafvollzug nicht maßgeblich bessert. Gegen Ende der Strafe werde dann in Gutachten über die künftige Gefährlichkeit und die möglicherweise erforderliche Sicherungsverwahrung entschieden, so der Jurist.
Auch wenn solche Gutachten sicherlich Schwächen haben können, hält Koch diese Methode für verhältnismäßiger als überlange Haftstrafen. In England und Wales beispielsweise gelten die europaweit strengsten Regelungen: Lebenslänglich für einen mehrfach rückfälligen Sexualstraftäter sei keine Seltenheit, so Koch. Dort stelle sich die Frage der zusätzlichen Sicherungsverwahrung dann nicht mehr. Allerdings sei auch die Sicherungsverwahrung, so wie sie derzeit ausgestaltet sei, eine Strafe, selbst wenn sie anders heiße.
Weitere Arbeit nötig
Einen Monat nach dem Karlsruher Urteil gibt es noch keine Vorschläge zur Neugestaltung. Auch aus ersten Experten-Beratungen im Bundestag Anfang Juni 2011 wird noch nichts Konkretes erwartet. Ob also der Trakt für Sicherungsverwahrung in Aachen ausgliedert wird, ob es mehr Personal geben wird, ob und wann an bestehenden Strukturen gerüttelt wird, ist noch offen.
Derweil hat Anfang Juni 2011 wieder einmal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg über die deutsche Sicherungsverwahrung entschieden. Und diesmal fielen die Urteile für Deutschland positiv und für die beiden Kläger negativ aus:
Die beiden Betroffenen konnten sich auf eine nachfolgende Sicherungsverwahrung einstellen, denn diese war im Strafurteil angekündigt worden. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot lag deshalb nicht vor. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung war rechtmäßig. Die beiden Beschwerdeführer, Verwahrte der JVA Aachen, bleiben also in Sicherungsverwahrung.
Ebenso übrigens wie die, deren nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung vom Europäischen Gerichtshof als menschenrechtswidrig verurteilt worden war. Monika Isselhorst-Zimmermann verweist noch einmal darauf, dass in jedem Fall das zuständige nationale Gericht über eine mögliche Entlassung entscheidet.
Autorin: Daphne Grathwohl
Redaktion: Hartmut Lüning