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Politik

"Wir haben die Tabuzone noch nicht verlassen"

16. März 2017

Fast jeder siebte Bundesbürger ist laut einer neuen Studie als Kind sexuell missbraucht worden. Damit ist die Zahl der Opfer gestiegen. Der Missbrauchsbeauftragte des Bundes fordert mehr Engagement der Politik.

Symbolbild Kindesmissbrauch
Bild: picture alliance/APA/picturedesk.com

Experten hatten auf einen Rückgang der Zahlen gehofft, doch die repräsentative Studie der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm zeigt das Gegenteil: So hatten im Jahr 2011 gut 12 Prozent der Befragten angegeben, als Kind sexuelle Gewalt erlebt zu haben. In einer neuen Umfrage berichten knapp 14 Prozent von sexuellem Missbrauch im Kindesalter. Bei den Frauen gab es einen Anstieg von 15,2 auf 18 Prozent, bei den Männern blieb die Häufigkeit mit rund 9,5 Prozent etwa gleich. Die Forscher hatten ihre Fragen rund 2500 repräsentativ ausgewählten Bundesbürgern im Alter von 14 bis 94 Jahren gestellt. Im Interview mit der DW meint der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, bei den politischen Entscheidern sei die Brisanz des Themas immer noch nicht angekommen.

Deutsche Welle: Herr Rörig, hat Sie die Erhöhung der Fallzahlen überrascht?

Johannes-Wilhelm Rörig: "Der volkswirtschaftliche Schaden sexueller Gewalt ist enorm."Bild: Christine Fenzl

Rörig: Nein, ich war nicht überrascht, dass kein Rückgang zu verzeichnen ist. Denn weder die polizeiliche Kriminalstatistik noch die Dunkelfeldforschung geben uns derzeit Hinweise auf einen solchen Rückgang. Das Engagement für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt ist zwar stärker geworden. Aber wir sind noch nicht so weit, dass wir einen flächendeckenden Schutz haben. Und weil wir nicht alle Handlungsmöglichkeiten nutzen, führt das dazu, dass wir uns weiterhin auf diesem sehr hohen Plateau bewegen.

Warum gibt es bisher keinen Durchbruch?

Wir müssen mehr als bisher in Prävention und auch in Intervention als in den Schutz investieren. Seit den Empfehlungen des Runden Tisches Kindesmissbrauch 2011 wissen wir, was den Schutz der Kinder und Jugendlichen verbessern würde und welche Hilfen Kinder und Jugendliche dringend benötigen, die Missbrauch in der Familie oder im sozialen Umfeld erleiden. Aber diese Handlungsmöglichkeiten werden noch nicht genutzt und den Kindern geboten. Und da arbeiten wir sehr intensiv dran, beispielsweise mit unserer Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt". Wir haben ja eine Kooperation begründet mit allen 16 Kultusministerinnen und -ministern, und damit wollen wir erreichen, dass Kinder schneller aus ihrem Missbrauchsdilemma herauskommen, das sie im familiären Bereich erleiden. Aber wir sind da, leider, sieben Jahre nach dem großen Missbrauchsskandal von 2010 immer noch am Anfang.

Was müsste die Politik tun, um Kinder und Jugendliche besser zu schützen? 

Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen, und zwar solche, die auf Dauer angelegt sind. Viele Projekte, die wir durchführen, sind nur befristet. Zum Beispiel ist meine Stelle nur befristet, und die Arbeit der Aufarbeitungskommission ist von der Politik auch nur befristet vorgesehen. Der sexuelle Kindesmissbrauch lässt sich aber nicht durch kurzfristige Maßnahmen eindämmen. Es braucht einen langen Atem. Um wirklich mit voller Kraft gegen sexuellen Missbrauch zu arbeiten, um etwa die Täterstrategien zu durchkreuzen, muss die Politik mehr Finanzmittel zur Verfügung stellen. Das heißt zum Beispiel, und das fordere ich immer wieder, dass die Vergabe von öffentlichen Fördergeldern, wie etwa die Förderung des Leistungs- und Spitzensports, daran geknüpft wird, dass es in den entsprechenden Einrichtungen Schutzmaßnahmen gegen Kindesmissbrauch gibt.

Woran liegt es, dass politisch noch nicht das getan wird, was getan werden müsste?

Das Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs ist sehr verstörend, und das setzt Abwehrreflexe frei. Viele Verantwortliche in der Politik denken, es sei schon genug getan worden, man hätte ja einen Missbrauchsbeauftragten und das würde reichen. Es reicht aber insgesamt nicht. Der Kindesmissbrauch ist ein großes, gesamtgesellschaftliches Problem: Wenn man sich vorstellt, dass sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen während ihres Aufwachsens mit sexueller Gewalt konfrontiert werden und wenn man sich die schweren und schwersten Folgen, die manchmal ein Leben lang anhalten, vor Augen führt, dann erkennt man, dass es eine große Differenz zwischen politischen Sonntagsreden und politischem Tun gibt. Wir müssen die kinderschutzfernen Politikerinnen und Politiker erreichen, die für die Bereitstellung von Finanzmitteln zuständig sind. Dafür kämpfe ich, und ich hoffe, dass in den Wahlprogrammen der Bundesparteien, die sich ja derzeit auf die Bundestagswahl vorbereiten, konkrete Maßnahmen aufgezeigt werden, wie wir den Schutz von Kindern und Jugendlichen dauerhaft verbessern können. Dabei setze ich sehr darauf, dass wir in unserem neuen Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier als unüberhörbaren Unterstützer für unser Thema bekommen. Wir brauchen bekannte und herausragende Persönlichkeiten, die den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch unterstützen.

Plakat-Kampagne gegen Kindesmissbrauch Bild: dapd

Welche Aufmerksamkeit erfährt das Thema Missbrauch in der Gesellschaft?

Die Sensibilität ist seit dem Missbrauchsskandal von 2010 schon gestiegen. Aber es wird noch nicht mit der notwendigen Konsequenz reagiert. Ein Beispiel: Wenn ein Schulleiter sagt, "Wir wollen auch bei uns Schutzmaßnahmen gegen sexuellen Kindesmissbrauch einführen", dann hat er in vielen Fällen mit Widerständen zu rechnen, etwa im Lehrerkollegium, das sagt, "Ach, das ist doch gar nicht unser Thema, und warum wollen wir uns denn damit beschäftigen, wir haben doch noch gar keinen Fall gehabt". Auch von den Eltern wird ein solches Vorhaben oft missverstanden, nämlich in dem Sinne, dass eine Schule, die etwas für den Schutz von Kindern und Jugendlichen tun will, dann unter Generalverdacht gestellt wird. Wir haben die Tabuzone bei dem Thema in Deutschland also noch nicht verlassen.

Welche Folgen zieht sexueller Missbrauch nach sich?

Generell löst ein Missbrauch psychologische Erkrankungen in der ganzen Bandbreite aus: Die Betroffenen leiden etwa unter sexuellen Problemen oder unter Problemen im Beziehungsbereich. Manche Menschen ziehen sich komplett aus der Gesellschaft zurück, andere werden alkohol- oder drogenkrank. Kinder und Jugendliche können aggressiv werden, auch Magersucht oder Fettleibigkeit können durch den Missbrauch begründet sein. Die Folgeerscheinungen für die Betroffenen sind gravierend, bis hin zur Suizidgefahr.

Das Präventionsnetzwerk der Charité Berlin versucht, potentielle Täter zu erreichenBild: Charité Berlin

Aber auch volkswirtschaftlich sind die Folgen immens. Wir liegen hier bei den Trauma-Folgekosten jedes Jahr im Milliardenbereich, es gibt eine Studie, die diese Kosten auf zehn Milliarden pro Jahr beziffert. Das sind aber bei weitem nicht allein die Behandlungskosten, sondern auch die Kosten, die etwa dadurch entstehen, dass die Betroffenen, bedingt durch ihr Trauma, nicht arbeiten können. Der Kostenberg für die Sozialversicherungen, also die Renten- und Krankenversicherungen oder auch für die Opferentschädigung, ist enorm. Deswegen fordere ich, dass Politik adäquat reagieren muss. Wenn mich Politiker fragen, "Warum wollen Sie denn noch mehr erreichen?", dann merke ich, dass sie den Zusammenhang zwischen dem, was den Kindern an Leid angetan wird, und den Folgekosten für die Sozialsysteme einfach noch nicht zusammenbringen. Tatsache aber ist: Neben dem schrecklichen menschlichen Leid entsteht durch sexuellen Missbrauch eben auch ein großer volkswirtschaftlicher Schaden.

Johannes-Wilhelm Rörig ist seit Dezember 2011 der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Amt wurde 2010 als Reaktion auf das Bekanntwerden des Ausmaßes des sexuellen Kindesmissbrauchs unter anderem in schulischen und kirchlichen Einrichtungen vom Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch eingerichtet. Der Beauftragte ist nicht weisungsgebunden.

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