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Politik

Seyran Ates: "Islam zeitgemäß ausgelegt"

15. Juni 2018

Ein Jahr nach der Gründung ist die liberale Moschee in Berlin etabliert. Das Interesse wächst. Doch seit sie die Moschee eröffnete, muss die Juristin Seyran Ates mit Drohungen und Anfeindungen leben.

ein Jahr liberale Moschee
Bild: DW/C. Strack

Im Raum stehen 15 Stühle. Und zwei Männer mit Pistolen. Personenschützer. Das ist Alltag für Seyran Ates, Alltag auch in der liberalen "Ibn-Rushd-Goethe-Moschee" in Berlin.

Die kleine islamische Gebetsstätte im Berliner Stadtviertel Moabit begeht an diesem Freitag ihr einjähriges Bestehen. "In diesen 12 Monaten ist schon sehr, sehr viel passiert", sagt Ates. "Es ist tatsächlich ein Bedürfnis vorhanden, eine solche Moschee zu haben." Ihr geht es um einen "freundlichen, spirituellen Islam, zeitgemäß ausgelegt". Deswegen orientierte sie sich bei der Namensgebung am arabischen Arzt und Philosophen Ibn Rushd, auch bekannt als Averroes (1126-1198), und am deutschen Universalgelehrten Johann Wolfgang von Goethe. Das seien "zwei Namen, die für den Islam in ihren Zeiten sehr viel Positives gesagt haben".

"Frauen und Männer gemeinsam"

Die Moschee liegt versteckt im Nebengebäude einer evangelischen Kirche... Bild: DW/C. Strack

Seyran Ates ist Juristin, Frauenrechtlerin, Muslima. Die streitbare Berlinerin, in Istanbul geboren, gründete im Juni 2017 die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, die mit vielen Vorstellungen des Islam bricht. So wird der Koran aus einem modernen Verständnis heraus gelesen und interpretiert. Frauen und Männer beten gemeinsam. Auch Frauen und Männer, die keine Imame sind, dürfen hier predigen. "Wir haben keinen festen Imam oder Imamin. In dieser Situation ist derjenige Mensch Imam, der jeweils zum Gebet ruft oder predigt." Ihre Kritiker? "Sie wollen keine Erneuerung im Islam; sie akzeptieren keine zeitgemäße Lesart des Koran; sie wollen verhindern, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind; in einer Moschee zum Beispiel, zusammen beten; und dass Musliminnen ohne Kopftuch sich auch als Musliminnen begreifen."

...in der dritten Etage.Bild: DW/C. Strack

Das ist für viele Muslime revolutionär - zu revolutionär. Wie revolutionär das ist, zeigt schon das Quartier der Moschee - im dritten Stock eines Nebengebäudes der evangelischen Sankt-Johannes-Kirche. Andere Möglichkeiten fanden sich nicht. Und man muss es fast nicht erwähnen, dass das Gebäude von einem Sicherheitsdienst bewacht wird. Gerade wurde der zunächst auf ein Jahr befristete Mietvertrag für zwei weitere Jahre verlängert. 

Gen Mekka

Seit einigen Monaten steht vor einer der Wände des Gebetsraums eine weiß gestrichene Holzkonstruktion. Sie zeige den Betern an, in welcher Richtung Mekka liege, in welche Richtung sie also ihr Gebet zu verrichten hätten, erläutert Ates. "Ich habe angefangen, Islamwissenschaften zu studieren", sagt sie. "Das interessiert mich wirklich. Deswegen lerne ich gerade Arabisch, weil ich auch über einzelne Wörter diskutieren will."

Die 55-Jährige sagt, es gebe im Kern der Gemeinde rund 35 Personen, die sehr aktiv seien und die Moschee zusammenhielten. Und es gebe ein nicht endendes Interesse von Menschen aus aller Welt, die Einrichtung zu besuchen. "Wir können uns vor Anfragen nicht retten", sagt sie. Pro Monat kommen an die 750 Besucher - oft auch Gruppen von Kindern oder Jugendlichen, sogar muslimische und jüdische Kinder gemeinsam. Seit kurzem gibt es eine festangestellte Mitarbeiterin, die Workshops an Schulen anbietet. Und Ates hat bereits eine weitere Idee im Blick: eine eigene islamische Akademie liberaler Ausrichtung.

"Die Leute haben Angst"

Seyran Ates vor einer Installation, die die Gebetsrichtung gen Mekka anzeigt. Bild: DW/C. Strack

Immer wieder gab es Spekulationen über ähnliche Moscheen oder Reform-Initiativen in anderen Städten. Ates war viel unterwegs in den vergangenen Monaten, in Wien und in Freiburg, in London und Kopenhagen. "Die Leute haben Angst. Wenn es an die konkrete Umsetzung geht, dann spüren die Leute die Angst", sagt sie. Doch sie "ganz sicher", dass es weitere liberale Moscheen geben werde. Es fällt jedenfalls auf, dass Ates immer wieder auch von Medien aus anderen Ländern interviewt wird. 

Die Juristin weiß aus eigener Erfahrung, wie gefährlich ihr Engagement für Frauenrechte und gegen patriarchale Strukturen ist. 1984, noch als Studentin, arbeitete sie in einer Beratungsstelle für türkische Frauen in Deutschland. Als sie mit einer Klientin sprach, stürmte ein Mann in den Raum, tötete diese und schoss auch Ates an. Sie wurde lebensgefährlich verletzt, aber überlebte

Ates zeigt sich enttäuscht über die Bundespolitik wie auch über die Politik der Stadt Berlin, die derzeit islamische Theologie an der Humboldt-Universität (HU) etablieren will. "Es wird verhindert, dass liberale Muslime eingeladen werden zur Deutschen Islamkonferenz und zum Beirat für Islamische Theologie an der HU. Wir flehen die Politik an!", sagt sie. Stattdessen setze der Berliner Senat wieder auf die etablierten muslimischen Verbände, die Druck ausübten. Aber für die liberale Gemeinde gelte: "Wir schaffen Unruhe." Dabei bleibe es. Zum Jahrestag der Gründung erwartet die Moschee unter anderen Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau (Linke) und Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD).

Und Ates kommt auf den Druck von außen zu sprechen. Da war der Muslim, der ihr vor der Tür der Moschee gesagt habe: "In einer Woche seid ihr weg." Oder es kamen fünf Männer aus einer etablierten Berliner Moschee, die forderten, die liberale Moschee zu schließen. Es gab im Netz viele persönliche Drohungen. Deshalb hat Ates die Personenschützer. Deshalb auch gilt höchste Sicherheitsstufe, wenn sie irgendwo in Deutschland auftritt. "Sie haben weiterhin ihren Job ganz sicher", sagt sie lachend zu einem ihrer Leibwächter. Vielleicht könne sie sich in 10 oder 15 Jahren wieder frei bewegen, "in diesen Dimensionen denke ich". 

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