Shades of Grey Vol.4
19. August 2015 Am 25. Mai 2011 veröffentlichte die britische Autorin E.L. James den ersten Band der Sado-Maso-Trilogie "Shades of Grey" und machte damit die erotische Literatur salonfähig. Vor allem bei den Frauen. Damen aller Altersklassen lasen mit großer Begeisterung die Bücher mit den Untertiteln "Geheimes Verlangen", "Gefährliche Liebe" und "Befreite Lust" und versteckten die Schmöker nicht mehr schamhaft mit dem Buchdeckel nach unten auf der Ladentheke.
Die Story: denkbar simpel, nicht besser als eine Vorabend-Soap im Fernsehen und literarisch etwa so anspruchsvoll wie ein Groschenroman. Hübsche Studentin verliebt sich in einen Milliardär, gerät in eine schräge Sado-Maso-Beziehung, wobei sich herausstellt, dass da auch Liebe im Spiel ist. Nach und nach kommt heraus, warum Grey so verkorkst ist, Kinder werden geboren, eifersüchtige Menschen setzen kriminelle Energien frei, und am Ende wird alles gut. Alles spielt sich in einer fast übertrieben luxuriösen Umgebung ab. Eine faszinierende Welt, die Millionen "normalsterbliche" Frauen für kurze Zeit aus dem Alltag riss. Die Bücher verkauften sich weltweit mehr als 125 Millionen Mal. Die Verfilmung (Weltpremiere auf der Berlinale 2015) spielte eine halbe Milliarde US-Dollar ein. Der Handel mit Sex-Toys blühte auf – die Produktserie "Fifty Shades of Grey" mit Peitschen, Fesseln, Handschellen und Liebeskugeln wurde zum Verkaufsschlager in den Erotik-Shops.
E.L. James hat im vierten Teil der Grey-Reihe den Spieß umgedreht und die bekannte Geschichte aus der Sicht Christians neu geschrieben - eine Art Remix. Der Leser, besser: die Leserin, soll erfahren, wie aus Grey ein Mensch mit sadistischen sexuellen Vorlieben wurde, was er wirklich denkt und fühlt: das Buch verspricht einen Blick in die dunkle Seele des Christian Grey.
Das Magazin "Focus" hat der Roman bereits im Juni, zur Veröffentlichung auf Englisch, als "Weltsensation" angekündigt. In den USA hatte das Buch schon vor dem Verkaufsstart am 18. Juni die Amazon-Charts geknackt. Nach vier Tagen waren schon mehr als eine Million Exemplare verkauft worden.
In Deutschland erscheint "Grey" am 21. August. Fans zählen die Tage bis zum "Grey-Day". Die großen Online-Händler halten sich über Zahlen noch bedeckt - einem war zumindest die Formulierung "Das Buch geht ab wie Schmidt's Katze" zu entlocken. Fakt ist: Bereits vor zwei Monaten war die deutsche Ausgabe von "Grey" an Platz 1 der Amazon-Charts.
Der Goldmann-Verlag lockt seit Tagen auf Twitter mit kleinen Zitaten, etwa: "Ja. Ich begehre sie. Wird sie wollen, was ich zu bieten habe?" Die "Bild"-Zeitung druckt unter der Überschrift "Es wird wieder gepeitscht und gefesselt!" kleine Auszüge, erotische Appetithäppchen, denen man schon entnehmen kann: Hier geht's auch nur um Pornografie, vielleicht ein wenig härter als in den bisherigen drei Bänden.
Auch wenn die Story jetzt aus Sicht des Mannes erzählt wird: Die Anzahl der männlichen Fans ist vergleichsweise gering. Der Soziologe Sven Lewandowski von der Uni Würzburg hat eine Erklärung für das fehlende Interesse: "Männer wollen nicht lesen, was eine Frau sich darunter vorstellt, wie männliches Begehren funktioniert." Außerdem gebe es genügend andere Angebote für Männer, da sei "Grey" mit Sicherheit kein konkurrenzloses Produkt.
Porno für Muttis
Kritiker tun "Shades of Grey" als "Arztroman ohne Doktor, aber dafür mit Doktorspielchen" ab (Spiegel), im englischen Sprachraum kursiert der Begriff "Mommy-Porn" – Pornografie für Muttis. Was aber hat die "Muttis" und alle anderen Frauen zwischen 20 und 60 in die Buchläden getrieben? Die israelische Soziologie-Professorin Eva Illouz hat darüber sogar ein Essay ("Die neue Liebesordnung") verfasst, in dem sie sagt, dass es den Leserinnen von "Shades of Grey" nicht primär um die Sexszenen gehe, sondern dass viele Frauen die Bücher als Selbsthilfe-Anleitung betrachten. Was Frauen daran interessiere, sei die Frage: "Was kann ich daraus für mein eigenes Leben mitnehmen?" Etwa Ideen zur Auffrischung der sexuellen Beziehung.
Lewandowski sieht den großen Erfolg von "Shades of Grey" auch im Zusammenhang mit der Geschlechteridentität: "Wenn Männer Hardcore-Pornos konsumieren, haben sie sicherlich kein Problem mit ihrer maskulinen Identität. Wenn sich Frauen solche Pornos ansehen, dann stimmt dies nicht mehr mit dem Frauenbild in der Gesellschaft überein. Somit ist 'Shades of Grey' ein wunderbarer Kompromiss – das Buch macht ein Angebot: Ihr Frauen dürft auch Pornos lesen, aber eben in dieser Form."
Alle zehn Jahre ein "Frauenporno"
Der Hype um "Shades of Grey" sei darüber hinaus nichts Neues, sagt Sven Lewandowski: "Etwa alle zehn Jahre schreibt eine Frau ein Pornobuch. Dann heißt es immer: Jetzt ist das geheime Begehren der Frau enthüllt. Das war bei Charlotte Roches "Feuchtgebieten" so, bei der Sexbiografie von Catherine Millet oder schon in den 1950er Jahren bei der "Geschichte der O". Jedes Mal entstünde ein Hype, der, wenn er verebbt sei, einen Nachfolger brauche. Und das bediene "Shades of Grey". Dass mit solchen Romanen tatsächlich die Geheimnisse weiblicher Sexualität gelüftet würden, ist in Lewandowskis Augen Unsinn.
Klar ist: "Grey" wird wieder millionenfach über die Ladentheken gehen, immerhin ist den vielen Leserinnen endlich ein Blick in Christian Greys Gefühlswelt vergönnt – und alle dürfen die "Amour fou", diese merkwürdige, leidenschaftliche, schmerz- und lustvolle Liebe der beiden Protagonisten noch einmal durchleben: mit sämtlichen Sexszenen, mit Luxus, Reichtum und komplett ohne Spannung – denn das Ende der Geschichte ist ja schon bekannt.