Dokumentarfilm über Chilly Gonzales auf der Berlinale
18. Februar 2018Deutsche Welle: Das war ja von Null auf Hundert: Ihr erster Dokumentarfilm und dann gleich auf der Berlinale. Herzlichen Glückwunsch, Herr Jedicke. Was hat es mit dem Filmtitel auf sich? "Shut Up & Play the Piano" ist ja auch ein Song von Chilly Gonzales. Wovon erzählt er darin?
Philipp Jedicke: Am Anfang meiner Recherchen habe ich den Song sehr oft gehört. Darin reflektiert Chilly Gonzales viele von den Themen, die am Ende auch in meinem Film gelandet sind. Der Song war für mich eine Art Zugang zu ihm, sozusagen mein Schlüssel zu seinen Gedanken. Er singt bzw. rappt darin über die Selbstzweifel, die er hat: Ob er noch mal ein Solo-Album am Piano aufnehmen soll, und wie das beim Publikum ankommt usw. Es hat mich fasziniert, dass er die Selbstzweifel, die man als Künstler hat, so offen anspricht - obwohl er da schon so erfolgreich war.
Wo sind Sie ihm das erste Mal begegnet?
Ich habe ihn witzigerweise bei einem Interview für die Deutsche Welle kennengelernt, insofern bin ich der DW auch auf ewig dankbar (lacht). Damals hatte ich ein Gespräch für die Musikredaktion mit ihm geführt zu seinem Buch "Reintroduction Etude", ein Lehrbuch über Pianisten, die zwischendurch aufgegeben haben und wieder anfangen wollen. Wir kamen dann schnell über andere Dinge ins Gespräch und haben uns extrem gut verstanden. Und dann habe ich ihn einfach spontan gefragt, ob schon einmal jemand einen Film über ihn gemacht hätte. Da hat er gesagt: nein. Aber das stimmte nicht ganz. Er hat mich tatsächlich angelogen! Es gab nämlich schon zwei Filme über ihn, die wir dann als Archivmaterial verwendet haben.
Wie viele Jahre Ihres Lebens hat Ihr Film Sie gekostet? Und wie viele Täler der Verzweiflung mussten Sie während der Dreharbeiten durchschreiten?
Ziemlich viele. Ich habe insgesamt dreieinhalb Jahre mit dem Film verbracht und es gab immer wieder Situationen, in denen die Umstände so schwierig waren, dass ich dachte, es klappt nicht mehr. Aber es ging dann immer irgendwie weiter, auch an Stellen, an denen ich sicher war: Jetzt ist Schluss. Ich musste mich da ganz schön durchbeißen. Chilly Gonzales hat sehr viel davon mitbekommen, und am Schluss sind wir gute Freunde geworden. Er hat mich immer sehr unterstützt, und er hat das auch honoriert und mir von Anfang an die Stange gehalten.
Keine Starallüren? Bei seiner Prominenz könnte man das ja erwarten...
Er ist sehr emotional und sehr sensibel. Aber er hat eben diese Bühnenfigur Chilly Gonzales geschaffen (eigentlich heißt er: Jason Charles Beck, Anmerk. d. Red.) und die benutzt er, um so eine Art Schutzwall zu den Medien aufzubauen. Er kann wunderbar umschalten: in diesen furiosen Pianisten und diesen leicht aufbrausenden Charakter. Das hilft ihm ganz oft.
Was für einem Typus Musiker sind Sie während dieser langen Drehzeit und auch bei den Konzerten begegnet?
Er hat eigentlich eine klassische musikalische Ausbildung: Er hat Klassik, Jazz und Komposition studiert. Als er dann nach Berlin kam, hat er das Ganze Richtung Entertainment weiterentwickelt und sich recht weit von seinem Wurzeln als klassischer Pianist entfernt - und dann aber wieder zurückgefunden. Er lebte eine Zeit lang in Paris und hat dann das Album "Solo Piano" (2004) aufgenommen. Das war sein Wiedereinstieg in die Klassik - zurück zu seinen Wurzeln. Inzwischen trainiert er wieder jeden Tag am Piano, was er jahrelang gar nicht mehr gemacht hat. Und seitdem arbeitet er viel mit klassischen Musikern und Orchestern zusammen.
Es gibt ein erstaunliches Statement in Ihrem Film, da sagt Cornelius Meister, der Leiter des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien: Ob Chilly Gonzales die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule in Deutschland oder Österreich heute bestehen würde, da sei er sich nicht sicher. Was erzählt das über Gonzales?
Chilly hat diese Stelle in der Rohschnittfassung des Films schon gesehen. Ich habe sie ihm auch bewusst gezeigt, weil ich so gespannt war, wie er auf diese Aussage reagieren würde. Und er hat nur genickt und gesagt: "He is right!" Er hat da überhaupt keine Allüren, weil er denkt, er sei der große klassische Musiker. Er ist mehr so ein Tausendsassa. So sieht er sich auch: vor allem als Entertainer - auch bei Klassik-Konzerten.
In Ihrem Dokumentarfilm werden zum ersten Mal auch seine jüdischen Familienwurzeln thematisiert. Seine Großeltern sind vor dem Holocaust aus Transsylvanien/Rumänien erst nach Tanger und dann nach Kanada emigriert. Welche Rolle spielt die Familiengeschichte im Leben von Chilly Gonzales?
Er hat einen sehr übermächtigen Vater, der ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann in Kanada ist. Und einen Bruder, der als Filmkomponist in Hollywood musikalisch noch viel erfolgreicher ist als Chilly Gonzales selbst. Und er musste sich aus beider Schatten lösen und rausarbeiten. Das hat er geschafft durch diesen radikalen "move" nach Berlin, wo er dann in diese Underground-Performance-Szene geraten ist, die damals schon etwas von Punk hatte. Das war seine Art der Rebellion gegen das, was er zu Hause und in der Familie erlebt hat.
Aber dieses "Jüdisch-Sein" spielt bei ihm nicht so eine Rolle. Er ist sehr weltlich erzogen, hat also gar keinen religiösen Background. Und er zieht das immer dann aus der Tasche, wenn er es gut gebrauchen kann. Er sagt im Film auch: "I am a professionally Jewish." Das war für ihn immer ein Spiel mit den Medien. Aber er hat starke Verbindungen zum jüdischen Humor, zu jüdischer Comedy.
Noch eine Frage zur Dramaturgie des Films. Sie haben einen Kunstgriff gewählt und eine Schriftstellerin als Interviewerin eingesetzt: Sibylle Berg, eine prominente Autorin, die auch sehr radikal und kompromisslos sein kann. War das ein Glücksgriff oder eher problematisch für die Dreharbeiten?
Er wollte richtig "gegrillt" werden in dem zentralen Interview. Wir haben erst überlegt, ob wir Kulturjournalisten fragen, aber kamen da nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Dann hatte eine Freundin von ihm die Idee, die Schriftstellerin Sibylle Berg zu fragen. Er hat sich informiert, was sie so macht und gesagt, er fände das toll. Sybille Berg war auch direkt einverstanden und hat sofort zugesagt. Und dann haben wir an nur zwei Tagen jeweils zwei Stunden Gespräch zwischen den beiden gedreht.
Es ist sehr vergnüglich das im Film zu sehen. Gegrillt wird Chilly Gonzales zwar nicht, aber Sibylle Berg stellt krasse Fragen, zum Beispiel: "Du bist jetzt in dem richtigen Alter, um über den Tod nachzudenken..." Wie haben Sie das als Regisseur hinter der Kamera erlebt - schweißtreibend?
Sibylle Berg ist gerne mal drastisch, mag morbide Witze und Sarkasmus. Es gab jede Menge solcher Fragen. Klar hatte ich zeitweise schon Angst, dass das Gespräch aus dem Ruder läuft. Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Wann spielt jeder eine Rolle, und wann ist jeder wieder er selbst? Er hat immer wieder in den Chilly-Gonzales-Modus gewechselt, und bei ihr war das ganz genauso. Sie sind beide hochsensible, hochintelligente Menschen - und Künstler. Ich muss zugeben, ich habe das echt genossen und saß da wie im Kino.
Das Gespräch führte Heike Mund.
Der Dokumentarfilm "Shut Up & Play The Piano" von Philipp Jedicke war auf der Berlinale zu sehen und wird seit dem 20. September in ausgewählten Programmkinos gezeigt. Jedicke arbeitet unter anderem für die Kulturredaktion der Deutschen Welle.
Chilly Gonzales veröffentlichte 2017 mit Jarvis Cocker das gemeinsame Konzeptalbum "Room 29", das sich mit den Anfängen der Traumfabrik Hollywood auseinandersetzt. Sein erfolgreiches Soloalbum "Piano Solo" ist 2004 erschienen und wurde von der Musikkritik mit viel Lob bedacht.