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Politik

Italien stimmt über Verfassung ab

3. Dezember 2016

Kurz vor Mitternacht dürfte feststehen, ob Italien ins Ungewisse abdriftet oder Premier Renzi Kurs halten kann. Es geht um mehr als die Verfassung heute. Zum Beispiel auch um Fußball. Bernd Riegert aus Rom.

Italien Referendum Plakate
Bild: picture-alliance/ROPI

Spannung liegt über Rom. Denn in der Ewigen Stadt wird am Sonntag eine überaus wichtige Entscheidung gefällt: "il derby" steht an. Damit ist nicht die Abstimmung über die Verfassung gemeint, sondern das Fußballspiel zwischen den Vereinen Lazio Rom und AS Rom. Die rivalisierenden Vereine duellieren sich zum 165. Mal. Die städtischen Verkehrsbetriebe warnen vor Chaos in der Innenstadt. "Das ist für Millionen von Italienern wichtiger oder mindestens genauso interessant wie das Referendum", meint Marcello, ein junger Andenkenverkäufer am Palazzo Chigi, dem Sitz des Ministerpräsidenten.

An diesem Sonntag können 52 Millionen Wahlberechtigte über eine umfassende Reform der Verfassung abstimmen. Darin wird die zweite Kammer des Parlaments von einem gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan zu einer Regionalvertretung umgebaut. Die Zahl der Senatoren wird stark verkleinert. Die Kompetenzen der Regionen und der zentralen Regierung in Rom werden neu geordnet. Außerdem steht auch noch das neue Wahlrecht zur Abstimmung, das der größten Partei in der ersten Kammer, dem Abgeordnetenhaus, immer eine absolute Mehrheit der Sitze garantiert. Damit will Matteo Renzi die Regierungsarbeit stabiler, schneller und einfacher machen. "Italien entscheidet über die nächsten 20 Jahre seiner Zukunft", erklärte Renzi bei einer abschließenden Wahlkampfkundgebung in Palermo am Freitag. "Wir können ein Comeback hinlegen", versprach Renzi. Wenn die Italiener Ja sagten, werde das Land wieder stark und zum "stärksten Land in der Europäischen Union" aufsteigen.

Ein Nein wäre keine Katastrophe, wettert dagegen der ärgste Widersacher Renzis, der Führer der "Fünf-Sterne-Bewegung", Beppe Grillo. Der trommelte sich bei seiner Abschlusskundgebung in Turin auf den Bauch und rief: "Entscheidet hiermit!" Die geplante Reform sei undemokratisch. "Man muss schon einfach deshalb Nein sagen, weil die Banken und die Finanzwelt ein Ja wollen", meint eine Grillo-Anhängerin auf den wenigen Wahlplakaten, die in den Städten zu sehen sind. "Stimmt mit Ja, wenn ihr weniger Politiker wollt", fordert dagegen Matteo auf dem Wahlplakat der Ja-Kampagne.

Renzi in Florenz: Italien verschlanken und beschleunigenBild: picture-alliance/dpa/G.Fischer

Das Referendum wird zum Renzi-rendum

Die Abstimmung über die Verfassung hat der sozialdemokratische Ministerpräsident Renzi zu einer Abstimmung über sich und seine Regierungsarbeit gemacht, als er noch sicher war, gewinnen zu können. "Wenn ich verliere, bleibe ich zuhause auf der Couch, esse Popcorn und schaue Fernsehen", hatte Renzi noch vor einigen Monaten getönt. Seit die Umfragen aber erst ein klares Nein vorhergesagt haben und mittlerweile eine etwas knappere Niederlage für Renzi andeuten, hat dieser seine Rhetorik gewandelt. "Es geht hier nicht um mich, sondern um Italien", wiederholt er seit Wochen unermüdlich in zahlreichen Fernsehtalkshows, auf Marktplätzen und bei Live-Chats auf seiner Facebook-Seite. Die Opposition, zu der nicht nur die linkspopulistischen "Fünf-Sterne", sondern auch die rechtskonservative, separatistische Lega-Nord und die konservative "Forza Italia" von Ex-Premier Silvio Berlusconi gehören, will Renzis Kopf. Bei einem Nein habe er zu gehen oder zumindest seinen Rücktritt anzubieten.

"Das ist eine ganz klare Abstimmung über Renzi. Und genau das hat er auch gewollt", meint Lutz Klinkhammer, der als Historiker in Rom die italienische Innenpolitik beobachtet. Die komplizierten Texte, die beim Referendum zur Abstimmung stünden, hätten wohl die wenigsten wirklich gelesen. Aus dem Referendum ist ein "Renzi-rendum" geworden, schreiben viele Zeitungen. "Ich glaube aber nicht, dass der Staatspräsident Renzis Rücktritt annehmen würde", meint Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut in Rom. Wahrscheinlich sei ein neuer Regierungsauftrag für Renzi oder eine Technokraten-Regierung für den Übergang bis zu den regulären Wahlen 2018.

Grillo in Turin: Die Wut aus dem Bauch lassenBild: Getty Images/AFP/M.Bertorello

Italienische Wutbürger?

Die Umfragen in Italien sind nicht besonders zuverlässig. Die letzte wurde aus rechtlichen Gründen bereits am 18. November veröffentlicht. Sie sieht zwar einen Vorsprung für das Nein-Lager, aber es könnte trotzdem knapp werden, meint die italienische Politologin Silvia Francescon. "Renzi verlässt sich auf die schweigenden Wähler, auf die Menschen, die nicht so aktiv in den sozialen Medien sind, auf die, die sich nicht so sehr aufregen und einfach Stabilität und Kontinuität wollen. Das ist ein erheblicher Teil der Wähler." Um das Volk trotz Wirtschaftsflaute milde zu stimmen, hat Premier Renzi noch kurz vor dem Urnengang die Renten erhöht, die Steuern ein wenig gesenkt und die Arbeitslosenhilfe aufgestockt. Die EU und die europäische Überwachung des italienischen Haushalts spielten bei der Abstimmung auch eine Rolle, aber das Wutpotential sei viel kleiner als zum Beispiel bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien, meint Silvia Francescon. Die Szenarien, wonach ein Nein zu einem Absturz der italienischen Wirtschaft und zu einer neuerlichen Staatsschulden- oder Eurokrise führen könnte, hält sie für übertrieben. "Es wird einige Zeit Unsicherheit geben. Für die angeschlagenen Banken wird es schwerer, ihr Eigenkapital zu erhöhen."

Beppe Grillo, dessen Bewegung "Fünf-Sterne" zweitstärkste Kraft im Parlament ist, konzentrierte sich ganz auf einen nahezu faktenfreien Wut-Wahlkampf. Da ist der nächste amerikanische Präsident Donald Trump sein Vorbild, den er kräftig zu dessen Wahl gratulierte. Bei einer Kundgebung in Turin warf er den Herrschenden vor, sie wollten das Volk mit der komplizierten Verfassungsreform verwirren und gefügig machen. "Die machen das mit Absicht, weil das Gehirn an sich keine Komplexität mag, sondern davon depressiv wird. Man versteht nichts und reagiert deshalb nicht. Dann können sie euch alles wegnehmen, die öffentliche Wasserversorgung und Schule eingeschlossen."

Amtssitz Palazzo Chigi in Rom: Muss Renzi den Posten als Ministerpräsident bald räumen?Bild: DW/B. Riegert

Anders als in anderen Staaten in Europa wie Großbritannien, Frankreich oder den Niederlanden spielten die Themen Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit oder Flüchtlinge im Wahlkampf nur eine Nebenrolle, sagte die Politikexpertin Silvia Francescon von der Denkfabrik "European Council on Foreign Affairs" der DW. "Beppe Grillo hat sich zu diesen Themen eigentlich nie klar geäußert", meint sie. Grillo verspricht aber einen Austritt aus der Gemeinschaftswährung Euro, sollte seine Bewegung je an die Macht kommen. Das wäre mit dem neuen Wahlrecht eigentlich einfacher für ihn, trotzdem lehnt er es vehement ab.

Gewissheit um Mitternacht

Die Wahllokale in Italien schließen um 23 Uhr MEZ. Unmittelbar danach verkünden die Fernsehsender die Ergebnisse der Wählerbefragungen an den  Wahllokalen. Bereits um 23.30 Uhr sollen die ersten Hochrechnungen vorliegen. Das Ergebnis des Spieles zwischen Lazio Rom und AS Rom steht bereits um ungefähr 16.45 Uhr fest. Die Wettbüros gehen von einem Sieg Lazios aus. Wetten gibt es auch beim Referendum. Die internationalen Anleger und Spekulanten tippen auf eine Niederlage für Matteo Renzi und hoffen auf stark fallende Aktienkurse in Italien, teilte der Chef der Börse in Mailand, Raffaele Jerusalmi, mit.

 

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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