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Literatur

Hermann Hesses "Siddhartha" wird 100

Manasi Gopalakrishnan
15. September 2022

Bei seinem Erscheinen machte das Buch kaum von sich reden. Erst Jahrzehnte später inspirierte Hermann Hesses "Siddhartha" Millionen Menschen dazu, Fragen nach dem Sinn des Lebens zu stellen.

Ein Ausschnitt aus einem Buchcover von "Siddhartha"
Ein Ausschnitt aus einem Buchcover von "Siddhartha"Bild: Fondazione Hermann Hesse Montagnola

"Siddhartha" ist die Geschichte der spirituellen Reise eines jungen Mannes, der denselben Namen wie Buddha trägt. Der Roman von Hermann Hesse spielt in Kapilavastu (das heutige Nepal) im 6. Jahrhundert. 

Siddhartha, die Hauptfigur des Romans, ist der Sohn eines wohlhabenden Hindu-Priesters, eines Brahmanen - die am höchsten angesehene Kaste in Indien. Obwohl die Heilige Schrift ihm vieles über die Seele und die Unsterblichkeit zu sagen vermag, möchte er herausfinden, ob es Menschen gibt, die diese Lehren wirklich leben. Inspiriert von Buddha, der ein ganzes Königreich aufgab, verabschiedet sich auch Siddhartha von seinem Leben im Luxus und macht sich mit seinem besten Freund Govinda auf eine Reise, auf der sie den Sinn des Lebens ergründen wollen.

Hermann Hesse gewann im Jahr 1946 den LiteraturnobelpreisBild: Hermann Hesse-Editionsarchiv

Vorstellung eines "spirituellen" Indiens

Hesses Roman nährte sich von einer damals im Westen stark idealisierten und romantisierten Wahrnehmung von Indien als einem spirituellen Zentrum - trotz unzähliger kolonialer Übergriffe gegen das Land. In der Gegenwart äußert sich dieses Phänomen zum Beispiel durch die anhaltende Begeisterung für Yoga oder Bestsellerromane wie das Buch "Eat, Pray, Love", das mit Julia Roberts in der Hauptrolle verfilmt wurde.

Zu Zeiten Hesses wurde Indien von sogenannten "Indologen" erforscht und bereist, die diese Idealisierung weiter vorantrieben. "Das wurzelte in der Deutschen Romantik, dem klassischen Indien der 'Vedas' und dem Romantischen Hinduismus", erklärt Jyoti Sabharwal, Dozent für Germanistik an der University of Delhi.

Hermann Hesse reiste selbst im Jahr 1911 nach Indien. Wie auch für seine Hauptfigur Siddhartha war es für ihn eine spirituelle Reise auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Trotz der Tatsache, dass er in Calw in Baden-Württemberg evangelisch erzogen worden war, schien Indien ihm dafür das am besten geeignetste Land, so der Germanist Martin Kämpchen, der zurzeit in Santiniketan in Indien forscht und zahllose Bücher über Hesse und die europäischen Indologen veröffentlicht hat.

Für Hesse war die Liebe zu Indien keine Mode, sondern lebensbestimmendes Thema. Seine Mutter wurde in Kerala im Süden Indiens geboren, wo ihr Vater - Hermann Hesses Großvater - als evangelischer Missionar tätig war. In dieser Zeit lernte er Malayalam, eine Sprache, die von über 37 Millionen Sprechern überwiegend im Südwesten Indiens gesprochen wird, und verfasste ein Wörter- sowie ein Grammatiklehrbuch.

"Siddhartha" wurde in mehrere indische Sprachen übersetzt, unter anderem ins Tamil.Bild: Fondazione Hermann Hesse Montagnola

Die Geburt von "Siddhartha"

Als Hesse sich im Jahr 1911 auf den Weg machte, plante er Java, Bali, Sri Lanka, und Südindien zu besuchen. Von dort aus wollte er mit dem Schiff nach Europa zurückkehren. Eine schwere Magenerkrankung erlaubte es ihm jedoch nicht, von Indonesien nach Indien zu reisen. 

Seine Reise war für ihn so faszinierend wie enttäuschend, erklärt Kämpchen, denn er fand auf ihr nicht die idealisierte Version von Indien, die er sich erhofft hatte (für Hesse gehörten Indonesien und Sri Lanka zu Indien).

Hesse war überzeugt, dass das "echte Indien in seiner Philosophie, seiner Askese, seinem tiefgründigen Nachdenken über das Leben" zu finden sei, so Kämpchen. Wie viele Denker der Deutschen Romantik glaubte er, dass die östliche Philosophie die westlichen Gesellschaften vor ihrem spirituellen Untergang retten würde.

Und genau diese Vorstellung versuchte er mit seinem Roman einzufangen. Deshalb idealisiert "Siddhartha" eine Form der Askese, die sich am Hinduismus und Buddhismus orientiert, und handelt von der Suche nach einer absoluten oder ewigen Wahrheit, auf der sich auch Hesse selber befand. 

Das Elternhaus Herman Hesses in Calw in Baden-WürttembergBild: picture-alliance/dpa/J.P. Strobel

Ein Buch der Gegenkultur

Als “Siddharta” im Herbst 1922 erschien, wurde es nicht sofort zum durchschlagenden Erfolg. Manche Kritiker hielten es für sentimentalen Kitsch. Erst viele Jahre später gelangte es zu globalem Ruhm, nachdem es in einer englischer Übersetzung von Hilda Rosner erschien, so Jyoti Sabharwal, die umfassend zu Hesse geforscht hat. Insbesondere nach den 68er-Bewegungen in Europa, Nordamerika und Asien fand es zu großer Beliebtheit.

Für die Woodstock-Generation wurde "Siddhartha" zum Kultbuch, während sie gegen gegen den Vietnamkrieg und die konservativen Wert- und Sexualvorstellungen ihrer Eltern demonstrierte. "Weltweit wurde es zu einem Roman der Gegenkultur der 60er- und 70er-Jahre", so Sabharwal.

Wie die 68er Deutschland veränderten

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'Siddhartha' in Indien

An den Germanistischen Instituten indischer Universitäten wurde "Siddhartha" gleich nach seinem Erscheinen im Jahr 1922 in den Lehrplan aufgenommen. Das erste Germanistische Institut entstand im Jahr 1914 in Westindien an der University of Pune.

Auch in Indien zogen die Verkäufe an, als die englische Übersetzung erschien. 1972 erschien eine englischsprachige Verfilmung des US-amerikanischen Regisseurs Conrad Rooks, in der indische Schauspieler wie Shashi Kapoor, Simi Garewal und Romesh Kapoor mitspielten.

Seit der Gründung der Hermann-Hesse-Gesellschaft in Thalassery, Kerala im Jahr 2005 erlebt das Buch einen erneuten Boom: "Siddhartha" wurde in mehrere indische Sprachen übersetzt, darunter Malayalam, Punjabi, Gujarati, Urdu, Bengali und Marathi. 

Herman-Hesse-Gesellschaften existieren an vielen Orten in verschiedenen Weltregionen. In Montagnola, der späteren Heimatstadt des Autoren in der Schweiz, zeigt die örtliche Gesellschaft zurzeit eine Ausstellung anlässlich des 100. Jubiläums von "Siddhartha". 

Fragen der Spiritualität bleiben relevant

"Siddhartha" sei ein Roman, mit dem sich jede Generation aufs Neue identifizieren könne, sagt Jyoti Sabharwal. Es gehe in dem Buch um eine Reise "des Individuums zum Selbst, um eine Suche nach dem eigenen Platz in der Welt". Es gehe um die Geschichte des verlorenen Sohnes, und obwohl der Roman im antiken Indien spiele, fänden sich viele junge Menschen, die sich von der Gesellschaft eingezwängt fühlten, darin wieder.

Auch in Indien waren die 1960er- und 1970er-Jahre turbulente Zeiten, insbesondere wegen der anti-autoritären, linken Naxal-Bewegung. Deshalb wurde “Siddhartha” bei indischen Studierenden beliebt. Aber auch noch in 100 Jahren, so zeigt sich Sabharwal überzeugt, wird der Roman Menschen Wege aufzeigen, den Sinn des Lebens zu verstehen.

"Er wird immer relevant sein", so Sabharwal. "Der Roman wirft Fragen auf, die von zeitloser Relevanz sind, weil die Hauptfigur Siddhartha ein Außenseiter ist, der auf die Gesellschaft schaut, um den Sinn des Lebens zu finden."

Kurz gesagt: Siddhartha steht für die menschliche Suche nach den Antworten auf die großen Mysterien des Lebens: Warum sind wir hier? Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin? Dem stimmt auch Martin Kämpchen zu: "Spirituelle Fragen sind immer relevant, und sie verlieren nie an Aktualität, weil sie nicht an einen bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte gebunden sind. In diesem Sinne sind sie zeitlos, und deshalb ist es auch 'Siddhartha'".

Adaption aus dem Englischen: Christine Lehnen

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