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Politik

Nordengland und der Brexit

Erik Albrecht Mexborough
13. März 2017

Es sind Orte wie Mexborough, die Großbritannien aus der EU geführt haben. Früher lebte die Kleinstadt in Yorkshire vom Bergbau, heute haben viele Menschen das Gefühl abgehängt zu sein. Erik Albrecht berichtet.

Brexit Reportage Mexborough
Bild: DW/E. Albrecht

Die Gänge der Markthalle von Mexborough sind leer an diesem Morgen. Nur die Käsetheke, ein Bücherladen und ein Stand, der Lippenstifte und Eyeliner verkauft, haben geöffnet. Von hinten schallt Rockmusik durch den gesichtslosen Zweckbau. Dort verkauft Ross seit Kurzem Schallplatten aus zweiter Hand. "Früher war der Markt in Mexborough in der ganzen Region berühmt", erinnert er sich. Heute werde es nur noch am Wochenende voll. Und die Kleinstadt in South Yorkshire sehnt sich in die gute alte Zeit zurück. 69 Prozent haben hier für den Brexit gestimmt - eines der höchsten Ergebnisse landesweit.

Draußen auf der kleinen Hauptstraße wirken die blauen Rollladen so, als wären sie schon lange nicht mehr geöffnet worden. Leere Ladenlokale wechseln sich ab mit Billigläden. Wie an so vielen Gebäude hängt auch hier ein Schild: "To let" ("Zu vermieten"). "Schauen Sie sich doch all die geschlossenen Läden an", sagt Bill Lawrence. Lawrence war Zeit seines Lebens Gewerkschafter. Seitdem die Kohleminen um Mexborough herum schließen mussten, beobachtet er, wie es mit der Stadt wirtschaftlich bergab geht.

Britische Arbeiter fühlen sich abgehängt

03:32

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"Manchmal eröffnen Läden neu", sagt Lawrence der DW. "Aber meist schließen sie nach ein paar Monaten wieder." Mexborough fehle es einfach an Kaufkraft. Auf Manvers, dem Bergbau-Schacht unmittelbar am Ortsausgang, glänzen heute die Stahl- und Glasfassaden großer Callcenter. Daneben hat eine große Modekette ihr Logistik-Zentrum. An 100 Jahre Bergbaugeschichte erinnert nur noch der Straßenname.

Als einer der wenigen in Mexborough hat Lawrence für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. Er macht die Sparpolitik der konservativen Regierung für den Brexit verantwortlich. "Die Menschen hier hatten das Gefühl, den Preis für die Finanzkrise bezahlen zu müssen", sagt er. Politisch ist es seitdem einsam um ihn geworden. Ein Bekannter habe ihn sogar als Verräter beschimpft. Doch meist blieben die Diskussionen hart in der Sache, aber freundschaftlich im Ton. "Viele haben auch der Einwanderung die Schuld gegeben, auch wenn ich nicht denke, dass das stimmt", fügt er hinzu.

Gewerkschafter Bill Lawrence, rechts, musste sich wüst beschimpfen lassen ob seiner Brexit-HaltungBild: DW/E. Albrecht

EU-Migranten in Ungewissheit

Im Eastern European Market sind die Regale vollgestopft mit Lebensmitteln gegen das Heimweh. Juliana ist vor neun Jahren aus Lettland nach Yorkshire gekommen. Ihr kleines Geschäft auf der High Street hat sie erst vor anderthalb Jahren eröffnet. Ihre Kunden arbeiten in den großen Warenlagern in der Umgebung. Seit der EU-Osterweiterung sind viele Migranten in die Region gekommen. Die Nachbarstadt Doncaster, zu der Mexborough gehört, hat sogar ein eigenes polnisches Nachrichtenportal: Doncaster.pl.

"Am Tag des Brexit hatten wir hier im Laden Weltuntergangsstimmung", erinnert sich Juliana. "Die meisten hatten ein Gesicht, als ob jemand gestorben sei." Premierministerin Theresa May betrachtet die Zukunft der etwa drei Millionen EU-Ausländer im Land als Teil der Verhandlungen mit Brüssel. Bis dahin steht ihr Bleiberecht in Frage. Es ist vor allem diese Ungewissheit, die Juliana und ihren Kunden zu schaffen macht. "Einen Laden packt man ja nicht einfach ein und nimmt ihn mit", sagt sie. "Aber mal schauen, ob es überhaupt noch Bedarf gibt, wenn viele Menschen das Land verlassen oder es zu Abschiebungen kommt."

Im Concertina Band Club ist freitags Bingo-Abend. Die meisten Spieler im großen Saal des Clubs aus den 1920-er Jahre sind im Rentenalter. Eine Dame mit grauen Haaren ruft Zahlenpaare aus. Derweil diskutieren Jonathan und seine Freunde im Billardzimmer beim Bier über Politik. "Unsere Generation hatte doch nie eine Chance auf Wohlstand", sagt Jonathan. "Gerade hier im Norden kann der EU-Austritt das auch nicht mehr schlimmer machen."

Generation Callcenter

Für sie habe es immer nur Callcenter-Jobs gegeben, stimmt Elliot zu. Die fünf Freunde sind Mitte 20. Sie mussten in den schwierigen Jahren nach der Finanzkrise Arbeit finden - für Träume blieb da wenig Raum. Jonathan wollte zur Polizei, als die einen generell Einstellungsstopp verhängte. Elliot jobbte im Callcenter und Liam hat gerade erst eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker begonnen - mit 25.

Keiner von ihnen hat für den Verbleib in der EU gestimmt. "Die Menschen hier hoffen verzweifelt auf einen Neuanfang", sagt Jonathan. Doch schon seit Jahren täte die Regierung in London nichts für sie. "Die einzige Chance, uns Gehör zu verschaffen, ist eine so fundamentale Entscheidung wie der EU-Austritt."

Andy Pickering, links, fühlt sich im Stich gelassen von den Politikern in WestministerBild: DW/E. Albrecht

So sieht es auch Andy Pickering, der Wirt des Concertina Band Clubs. "Die Politiker bleiben da unten in Westminister und sprechen nicht mit den Menschen vor Ort. Deshalb haben sie nicht verstanden, wie stark hier im Norden die Brexit-Stimmung ist."

"Keiner weiß, was kommt"

An der Theke diskutiert derweil der Gewerkschafter Bill Lawrence mit seinem Nachbarn über den Brexit. Er habe wegen der großen Unsicherheit gegen den Austritt gestimmt. "Und jetzt sind wir neun Monate weiter und keiner weiß, was kommt." 

Er fürchtet vor allem, dass Premierministerin May den Brexit nutzen könnte, das Land noch neo-liberaler zu machen. Immerhin habe May der EU gedroht, die Unternehmenssteuern massiv zu senken. Von der anderen Seite der Bar schaltet sich Pickering in die Diskussion ein: "Das ist doch nur eine Drohung, Bill." Schließlich habe Brüssel vor nichts so viel Angst, wie vor einer britischen Steueroase vor der Küste der EU.

Wie es jetzt weiter geht, weiß man in Mexborough auch nicht. Ein Dreivierteljahr nach der Brexit-Abstimmung liegt das Schicksal der Stadt wieder in den Händen der Regierung in London - und vor einer ungewissen Zukunft.