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PolitikAsien

Sieg der Taliban setzt Berlin unter Druck

15. August 2021

Nach dem Erfolg der Taliban in Afghanistan wächst die Sorge um die Deutschen im Land und um die Ortskräfte des Bundeswehr-Einsatzes. Und die Debatte über afghanische Flüchtlinge beginnt erneut.

München, Deutschland | Demo gegen Abschiebungen nach Afghanistan
Noch im Juni wurde gegen Abschiebungen nach Afghanistan protestiert - aktuell sind Abschiebungen ausgesetztBild: Alexander Pohl/NurPhoto/picture alliance

Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit: "Wir setzen jetzt alles daran, unseren Staatsangehörigen und unseren ehemaligen Ortskräften eine Ausreise (aus Afghanistan) in den kommenden Tagen zu ermöglichen", erklärte Außenminister Heiko Maas am Sonntagabend in Berlin. Zugleich räumte der SPD-Politiker ein: "Die Umstände, unter denen das stattfinden kann, sind aber derzeit schwer vorherzusehen." 

Noch in der Nacht zum Montag sollten Transportflugzeuge der Bundeswehr aufbrechen, "um die notwendigen Evakuierungsarbeiten zu unterstützen und diese dann auch in den kommenden Tagen durchzuführen". Die Militärmaschinen würden die Menschen zunächst von Kabul aus in ein Nachbarland bringen, so Maas weiter. "Für den anschließenden Transport von da nach Deutschland stellen wir auch zivile Flugzeuge zur Verfügung." 

Zuvor hatte Maas entschieden, das Personal der deutschen Botschaft zum militärischen Teil des Flughafens Kabul zu verlegen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien dort eingetroffen. Als Maas dies twitterte, bewegten sich die Taliban schon durch die Straßen der afghanischen Hauptstadt, wenig später drangen sie in den Präsidentenpalast vor

Auch andere Länder setzten Flugzeuge zur Evakuierung ihrer Botschaften ein. US-Helikopter flogen zwischen Botschaftsviertel und Kabuls Flughafen hin und her.

Verantwortung für Ortskräfte

Die Sorge um die Sicherheit der Deutschen in Afghanistan ist das eine in der Debatte. Das andere ist die Verantwortung für jene Afghanen, die während des langen Bundeswehr-Einsatzes in dem Land als lokale Kräfte, beispielsweise als Übersetzer, tätig waren. Am 29. Juni hatten die letzten deutschen Soldaten Afghanistan verlassen. Schon damals drängten verschiedene Akteure auf das Ausfliegen der sogenannten Ortskräfte, auch Bundeswehr-Angehörige, die in früheren Jahren in Afghanistan tätig waren.

Knapp eine Woche zuvor hatte der Bundestag nach kurzer Debatte einen Antrag der Bündnisgrünen zurückgewiesen, die ein Gruppenverfahren zur "großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte" erreichen wollten. Die Koalitionsfraktionen und die AfD lehnten dies ab, die Linke unterstützte das grüne Ansinnen, die FDP enthielt sich.

Nun wirft FDP-Politikerin Strack-Zimmermann Außenminister Heiko Maas vor, sich bei der Debatte im Bundestag zur Rettung der afghanischen Ortskräfte "primär über die Bilder Sorgen gemacht" zu haben, die durch einen "Exodus" entstehen würden. Entsprechend habe das Auswärtige Amt nicht gehandelt. "Das ist ein Totalversagen", so die Liberale zur Deutschen Welle.

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer besuchte Ende Februar 2021 deutsche Soldaten in AfghanistanBild: Sabine Oelbeck/Bundeswehr/dpa/picture alliance

Verzweifelte Hilferufe

Spätestens seit Mitte Juli verdrängten die Flutkatastrophe und Klimakrise thematisch die innerdeutsche Debatte um die bedrohten einstigen Helfer in Afghanistan. Doch angesichts des Siegeszuges der Taliban erinnern seit Tagen erschütternde Hilferufe von Ortskräften, die Bundeswehr-Angehörige oder auch Medienvertreter veröffentlichen, an die Sorgen vor Ort. Rund 1800 Menschen haben es seit dem Abzug der Bundeswehr bereits nach Deutschland geschafft - tausende andere warten auf ein Signal der deutschen Seite. Und verzweifeln.

Politiker von FDP, Linken und Grünen werfen seit Tagen der Großen Koalition Planlosigkeit und zu zögerliches Handeln vor. Erst am Samstag hatte auch CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet gefordert, dass Deutschland die ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr retten müsse. "Afghanen, die so mutig waren, der Bundeswehr zu helfen, müssen jetzt rausgeholt werden", sagte er bei einer Veranstaltung der CDU-Jugendorganisation Jungen Union in Hessen.

Im Krisenstab

Am gleichen Tag gab Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, im Krisenstab in Berlin eingebunden, bereits ein entsprechendes Signal. Die Lage in Afghanistan habe sich in den vergangenen Wochen "sehr dynamisch entwickelt" und spitze sich weiter zu. "Wir werden das Auswärtige Amt bei der Rückführung deutscher Staatsbürger und weiterer zu Schützender aus Afghanistan nach Deutschland unterstützen."

Nun geschlossen, auch für Hilfesuchende: Die deutsche Botschaft in Kabul (Archiv-Foto von 2007)Bild: DB Merey/dpa/picture alliance

Für diese militärische Evakuierung "zu Schützender" bräuchte die Bundesregierung ein Mandat des Bundestages. Denn die Bundeswehr ist eine "Parlamentsarmee"; sie wird formell durch den Bundestag beauftragt.

Aber das sogenannte Parlamentsbeteiligungsgesetz sieht den Fall einer solchen eiligen Evakuierung vor. Darin heißt es: "Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschub dulden, bedürfen keiner vorherigen Zustimmung des Bundestages."

Mehr Flüchtlinge?

Doch die vielstimmige Debatte des Wochenendes kreist nicht nur um die Frage der Evakuierung von Deutschen und ihren Helfern. Damit einher gehen Spekulationen um eine wachsende Zahl von Flüchtlingen, die nach Deutschland oder Europa kommen. "Man muss damit rechnen, dass sich Menschen in Bewegung setzen, auch in Richtung Europa", sagte beispielsweise Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) der "Augsburger Allgemeinen" (Montag).

Und der CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, forderte ein Eingreifen des Westens gegen die Taliban und nannte dabei ausdrücklich auch eine Beteiligung der Bundeswehr. Im Hintergrund steht die Angst vor einem erneuten Terror-Regime.

Zivile Helfer bleiben

Die Welthungerhilfe ist in Afghanistan vor allem im ländlichen Raum aktivBild: picture-alliance/dpa

Auch wenn die Bundeswehr nun Deutsche und afghanische Helfer ausfliegt, die im offiziellen Regierungsauftrag tätig waren: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bleiben vorerst und wohl auch auf längere Sicht im Land. Für die Welthungerhilfe ist, wie Sprecherin Simone Pott auf Anfrage sagte, kein Deutscher in Afghanistan tätig. "Wir haben noch rund 250 lokale Mitarbeiter", sagt sie. Bisher sei keiner von ihnen bedroht worden, "sie wollen mit ihren Familien im Land bleiben".

Für Caritas international ist seit vielen Jahren der Deutsche Stefan Recker im Land, der nach Angaben der Organisation zwei bis drei Dutzend einheimische Mitarbeiter hat; einzige weitere nicht-afghanische Kraft ist eine Italienerin. "Wir werden bleiben", sagt Recker in einem seiner Interviews am Wochenende. "Auch eine Taliban-Regierung wird Organisationen der Entwicklungshilfe brauchen."

Medien bitten um Visa-Notprogramm  

Unterdessen riefen mehrere deutsche Verlage, Medienhäuser und Sender - darunter auch die Deutsche Welle - die Bundesregierung zur Hilfe für die einheimischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Afghanistan auf. In einem offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel und Maas forderten sie angesichts des Vordringens der Taliban ein Visa-Notprogramm. Das Leben dieser freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei akut gefährdet: "Nach dem Rückzug der internationalen Truppen, auch der deutschen, wachsen die Sorgen, dass es gegenüber unseren MitarbeiterInnen zu Racheakten der Taliban kommt."

Mit dem Appell werde sich einer ähnlichen Bitte britischer und US-amerikanischer Medien an ihre jeweiligen Regierungen angeschlossen, heißt es in dem Schreiben weiter. Zu seinen Erstunterzeichnern gehören unter anderem "Die Zeit", die Deutsche Presse-Agentur, "Der Spiegel" und die "Süddeutsche Zeitung.

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