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Literatur

Siegfried Lenz: "Schweigeminute"

Courtney Tenz db
9. Oktober 2018

Lenz erzählt eine tragische Liebesgeschichte um die Beziehung einer Englischlehrerin zu ihrem 18-jährigen Schüler. "Schweigeminute" spiegelt auch die Wachstumsschmerzen Westdeutschlands in der Nachkriegszeit wider.

Siegfried Lenz
Bild: picture-alliance/akg-images

 

Die Tragödie ist von Anfang an zu erahnen.

Der Schulchor singt "Wir setzen uns mit Tränen nieder" ­– so beginnt Siegfried Lenz' Novelle "Schweigeminute". Alle Schüler haben sich in der Aula zu einer Gedenkfeier für ihre verehrte Englischlehrerin versammelt, die 25-jährige Stella, die bei einem Bootsunfall ums Leben kam.

Christian, ein 18-jährige Schüler und Stellas Liebhaber, tritt als Ich-Erzähler auf. Die Trauer um Stella erlebt der Leser aus seiner Perspektive, auch die Ereignisse, die zu ihrem Tod führen, sieht der Leser mit seinen Augen.

Es ist eine melancholische Geschichte um eine verlorene Liebe, voller nostalgischer Details aus einer Zeit, die schon lange vor der Veröffentlichung des Buches im Jahr 2008 vergangen war, Jahrzehnte nach dem Krieg, aber noch vor dem Fall der Berliner Mauer: eine Zeit, in der das Leben noch einfach war. Damals schienen lange Sommertage noch länger, noch gemächlicher. Doch das Ende der alten Lebensweisen zeichnete sich schon ab, und es gab immer weniger Menschen, die noch – wie Stellas Vater – den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten.

"Schweigeminute" von Siegfried Lenz

01:52

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Die Küstenlandschaft der Ostsee, eine Metapher

Die Geschichte spielt in einem idyllischen Fischerdorf an der Ostsee, und sie fängt das Leben in der ländlichen Küstenregion nahe der dänischen Grenze auf einzigartige Weise ein. Siegfried Lenz zeichnet ein poetisches Porträt der rauen Wetterverhältnisse Norddeutschlands: Hier sind die Elemente unberechenbar, das Leben geht einfach weiter, wenn Stürme über die weite Wasserlandschaft peitschen. "Schweigeminute" ist reich an Metaphern und sinnbildlichen Beschreibungen, etwa als Stella Christian auf dem Boot seines Vaters besucht, wo Arbeiter mit der Rekonstruktion eines Wellenbrechers beschäftigt sind:

"Die Schweigeminute" wurde 2016 fürs Fernsehen verfilmt Bild: ZDF/Hannes Hubach

“Wie sie Frederik interessiert beobachtete, der seinen Greifer über einen großen schwarzen Koloß brachte, ihn lüftete, ihn einen Augenblick über dem fast leeren Frachtraum schweben ließ, es aber nicht verhindern konnte, dass der Stein aus den Metallzähnen glitt und auf den mit Stahlblech ausgelegten Boden des Prahms schemmerte, so hart, dass der Lastkahn erzitterte."

Erzählperspektive erzeugt Nähe

Stella wird kein Loch im Leben des Erzählers Christian füllen, sie entgleitet ihm durch ihren Tod – wie der Stein dem Greifer. Während der Trauerfeier schweifen Christians Gedanken immer wieder in die Vergangenheit, und er schildert, wie er und Stella versuchten, die Untiefen ihrer unmöglichen Liebe zu navigieren.

Dabei spricht der Ich-Erzähler Stella immer wieder direkt an – ein stilistischer Kniff, der der Geschichte Atmosphäre und Intimität verleiht. Christian skizziert die erste intime Begegnung des Paares:

"Hier hätte Stella meine Hand als einen Versuch verstehen können, sie nur zu besänftigen, zu beruhigen, und sie duldete es auch, als meine Hand sanft über ihren Rücken fuhr; auf einmal jedoch warf sie den Kopf zurück und sah mich überrascht an, gerade so, als hatte sie unerwartet etwas gespürt oder entdeckt, womit sie nicht gerechnet hatte."

Ohne Unterbrechung geht es weiter: "Du lehntest deinen Kopf an meine Schulter, ich wagte nicht, mich zu bewegen, ich überließ dir meine Hand und fühlte nur, wie du sie an deine Wange hobst und sie dort ruhen ließest für einen Augenblick. Wie verändert Stellas Stimme klang, als sie plötzlich aufstand und nach draußen ging, an den Strand, wo sie versuchte, unser zur Seite gekipptes Dingi aufzurichten, aber es nicht schaffte".

Idylle und Ungeheuerlichkeit – die Novelle spielt an der Ostseeküste Bild: picture-alliance/dpa/M. Dietsch

Passagenweise liest sich die Geschichte wie die sehr persönliche Nacherzählung eines privaten Augenblicks zwischen Liebenden. Der Autor Siegfried Lenz soll die Novelle nach dem Tod seiner Frau als Hommage an sie geschrieben haben. Intensität und melancholische Trauer lässt sich in jedem Wort erspüren.

Siegfried Lenz: Schweigeminute (2008), aktuell verlegt bei Hoffmann & Campe

Siegfried Lenz (1926 - 2014) war überaus produktiv und schrieb eine lange Reihe von Erzählungen, Dramen und Romanen. Der Zeitgenosse von Günter Grass und Martin Walser wurde nach dem Abitur zur Kriegsmarine eingezogen. In Dänemark kam er in Kriegsgefangenschaft. Die Novelle "Schweigeminute" – von Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki als Lenz' bestes Werk bezeichnet – ist eines von Dutzenden von veröffentlichten Werken, unter denen die Romane "Heimatmuseum" und "Die Deutschstunde" besonders herausragen. Er erhielt zahlreiche bedeutende nationale und internationale Preise und Auszeichnungen, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Goethe-Preis.

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