Nach rund 170 Jahren will der Münchener Konzern nicht mehr in Russland produzieren und zieht sich aus dem größten Land der Welt zurück. Der Grund ist der Ukraine-Krieg, in den Präsident Putin sein Land geführt hat.
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"Wir verurteilen den Krieg in der Ukraine und haben beschlossen, unsere industriellen Geschäftsaktivitäten in Russland in einem geordneten Prozess zu beenden", erklärte Konzernchef Roland Busch am Donnerstagmorgen bei der Vorstellung der aktuellen Geschäftszahlen. Siemens habe bereits Maßnahmen auf den Weg gebracht um den Industriebetrieb und alle industriellen Geschäfte einzustellen.
Das Unternehmen war 1847 von Werner Siemens, einem Artillerie-Leutnant, und dem Feinmechanikermeister Johann Georg Halske in Berlin gegründet worden - und zwar als "Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens&Halske". Das Berliner Unternehmen entwickelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer kleinen Werkstatt, die neben Telegraphen vor allem Eisenbahnläutwerke, Drahtisolierungen und Wassermesser herstellte, zu einem der weltweit größten Elektrounternehmen.
Siemens: Vom Zeigertelegrafen zum Internet der Dinge
Vor 200 Jahren wurde der Siemens-Gründer Werner von Siemens geboren. Von Industrierobotern und vernetzten Autos hat der Erfinder damals wohl kaum geträumt. Eine Zeitreise durch die Unternehmensgeschichte in Bildern.
Bild: picture-alliance/dpa/J. Stratenschulte
Alles begann mit dem Zeigertelegrafen
Hiermit fing alles an: 1846 und 1847 baut Werner Siemens seinen ersten Zeigertelegrafen, gewissermaßen der Vorläufer des Faxgeräts. Um ihn in Serie herstellen zu können, gründet der Erfinder zusammen mit dem Feinmechaniker Johann Georg Halske die "Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske". In einer Berliner Hinterhauswerkstatt fertigen zehn Handwerker die ersten Zeigertelegrafen.
Bild: Siemens AG
Aus der Werkstatt in die Fabrik
In den folgenden Jahrzehnten wird aus dem Handwerksbetrieb eine Fabrik mit normierter Serienfertigung. Siemens & Halske baut Dampfmaschinen und entwickelt den ersten Generator. Die Entdeckung des elektrodynamischen Prinzips gilt als eine der wichtigsten Leistungen Siemens: Er schuf damit die Voraussetzung, Strom in größerem Umfang zu erzeugen.
Bild: Siemens AG
Ferngespräche in die USA
1864 scheitert die Verlegung eines Seekabels durch das Mittelmeer, was dem Unternehmen empfindliche Verluste beschert. 1874/75 verlegen die Siemens-Brüder Werner, William und Carl mit Hilfe des eigens gebauten Kabeldampfers Faraday dann aber erfolgreich ein Telegrafenkabel zwischen Europa und den USA - weitere Transatlantik-Kabel folgen.
Bild: Siemens AG
Vorreiter bei der E-Mobilität
Auf der Berliner Gewerbeausstellung 1879 präsentiert Siemens & Halske die erste elektrische Eisenbahn der Welt mit Fremdstromversorgung. Es folgt die erste elektrische Straßenbahn (Bild), die im Jahr 1881 in Lichterfelde bei Berlin den Betrieb aufnimmt. Auch der erste Vorläufer des modernen Oberleitungsbusses stammt von Siemens.
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Unternehmer mit sozialer Agenda
Neben seinen technischen Innovationen und seinem Unternehmergeist macht sich Werner Siemens (seit 1888 "von Siemens") auch mit sozialpolitischen Initiativen einen Namen. 1872 etabliert er eine Pension-, Witwen- und Waisenkasse als betriebliche Altersversorgung. 1890 scheidet er offiziell aus dem Geschäft aus. Zwei Jahre später erliegt von Siemens im Alter von 75 Jahren einer Lungenentzündung.
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Ein neuer Stadtteil entsteht
Die Firma wird derweil größer und größer: Mit dem Ziel, die Expansion am Traditionsstandort abzusichern, erwirbt Siemens & Halske 1897 ein nahezu unbesiedeltes Gelände nordwestlich von Berlin. Nach und nach werden hier alle betrieblichen Aktivitäten räumlich konzentriert und Werkswohnungen gebaut. Bis 1914 entsteht ein völlig neuer Stadtteil - die "Siemenssstadt".
Bild: Siemens AG
Zwangsarbeit im Siemenswerk
Während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt Siemens auch Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge in seinen Werken. Im Siemenslager Ravensbrück setzt das Unternehmen tausende weibliche Häftlinge zum Wickeln von Spulen und zum Bau von Telefonen ein. Nach dem Krieg sind die meisten Gebäude und Werksanlagen zerstört, das Firmen-Vermögen wird konfisziert.
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Umzug nach München
Teile der Unternehmensführung werden noch im Februar 1945 nach München, Mülheim a.d. Ruhr und Hof verlagert. Siemens & Halske bekommt den Hauptsitz in München, Berlin bleibt zweiter Firmensitz. Zum ersten Oktober 1966 wird die Siemens Aktiengesellschaft gegründet.
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Mehr Produkte, mehr Fabriken, mehr Länder
Turbinen, Automatisierungstechnik, Eisenbahnen, Kraftwerke, private Kommunikationssysteme, Medizintechnik, Waschmaschinen - es gibt kaum etwas, das Siemens nicht baut. Anfang der 1980er produziert das Unternehmen bereits in 37 Ländern. In den 1990er-Jahren lag der Anteil der nicht-deutschen Konzernumsätze bei zwei Drittel.
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Untreue, Bestechung, schwarzer Kassen
2006 fliegt ein schwerwiegender Korruptionsskandal bei Siemens auf: Über Jahre sollen rund 1,3 Milliarden Euro in dunkle Kanäle geschleust worden sein, um lukrative Auslandsaufträge zu ergattern. Den Elektrokonzern kostet die Aufarbeitung 2,5 Milliarden Euro. Etliche Beteiligte verlieren ihren Job; auch die Führungsspitze wird ausgetauscht.
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Radikaler Umbau
Im Mai 2014 stellt der neue Konzernchef Joe Kaeser seine Pläne für einen radikalen Konzernumbau vor. Die Aufteilung des Geschäfts in Sektoren wird aufgehoben, um den Konzern schlanker und wettbewerbsfähiger zu machen. Siemens soll auf Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung ausgerichtet werden. Durch den Umbau verlieren Tausende ihren Arbeitsplatz.
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Milliardenaufträge und Übernahme-Poker
Mehr als sechs Milliarden Euro zahlt die Deutsche Bahn Siemens für den Bau der neuen ICE-Flotte - der bis dahin größte Auftrag in der Konzerngeschichte. Ähnlich viel Geld gibt es nur von Ägypten, für das Siemens momentan das größte Gaskraftwerk der Welt baut. 2014 will Siemens den französischen Konkurrenten Alstom übernehmen, doch der entscheidet sich für das Angebot von General Electric.
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Vernetzt in die Zukunft
Industrie 4.0 und das "Internet der Dinge" versprechen eine intelligentere und weltweite Vernetzung von Maschinen, Lagersystemen und Betriebsmitteln. Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung verändert die komplette industrielle Produktionskette - eine neue Herausforderung für den Siemens-Konzern.
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Siemens gehörte zu den ersten multinationalen Industrieunternehmen Europas. Die Auslandsproduktion begann schon 1863, als Siemens ein Kabelwerk im englischen Woolwich gründete. 19 Jahre später begannen die Beziehungen zu Russland. Die Berliner richteten ein Kabelwerk in Sankt Petersburg ein. Im Zarenreich war Siemens an der Errichtung der Telegrafenverbindung zwischen Moskau und der Hauptstadt St. Petersburg beteiligt.
Heute ist Siemens ein international tätiger Mischkonzern. Sein Kern ist die börsennotierte Siemens AG, zu der zahlreiche deutsche und internationale Konzernunternehmen gehören. Für den Konzern mit Sitz in Berlin und München arbeiten mehr als 300.000 Menschen an 125 Standorten in Deutschland und in weiteren 190 Ländern. 2021 erwirtschafteten sie einen Umsatz von 62,3 Milliarden Euro.
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Zuletzt immer mehr Ärger
Die Zusammenarbeit mit dem Zarenreich und später mit der Sowjetunion verlief für Siemens - mit Ausnahme der beiden Weltkriege - meist problemlos. Das änderte sich, als die russische Föderation mit Wladimir Putin an der Spitze immer häufiger mit internationalen Institutionen in Konflikt kam und später auch mit Sanktionen und Boykotten belegt wurde.
So zogen Zollbeamte 20210 am Frankfurter Flughafen eine Siemens-Sendung mit Schalterkomponenten und Rechenmodulen aus dem Verkehr. Das Paket sollte an eine Tochterfirma des russischen Atomkonzerns Rosatom gehen und offenbar zum iranischen Kernkraftwerk Buschehr weitergeschickt werden. Die Weiterleitung der Siemens-Komponenten hätte gegen das EU-Iran-Embargo verstoßen. Siemens gab sich ahnungslos: Von der Weiterleitung in den Iran habe man nicht gewusst.
"Gänzlich inakzeptabler Vorgang"
Die Konzernleitung verhielt sich nicht immer eindeutig und versuchte auch, an verhängten Embargos vorbei die Geschäfte mit Russland voranzutreiben. So reiste der damalige Siemens-Chef Joe Kaeser nur zwei Wochen, nachdem Russland die Krim völkerrechtswidrig annektiert hatte, nach Moskau. Dort traf er sich mit Präsident Putin und dem Chef der russischen Eisenbahn, Wladimir Jakunin.
Siemens wird außerdem verdächtigt, Sanktionen durch die Lieferung von Gasturbinen auf die Krim verletzt zu haben. Laut Vertrag waren sie für ein Elektrizitätswerk in Russland vorgesehen. Die russische Zeitung Wedomosti fand später heraus, dass die Turbinen für die Krim bestimmt waren - Siemens wolle sie trotz Sanktionen nach Sewastopol und Simferopol auf die Krim liefern.
Die Bundesregierung rügte den Konzern damals: "Es liegt in der Verantwortung des Unternehmens, dass Exportgesetze und Sanktionen eingehalten werden", so eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums. Regierungssprecher Steffen Seibert sprach von einem "gänzlich inakzeptablen" Vorgang.
Siemens kann es sich leisten
Aktuell bekommt Siemens die Sanktionen gegen Russland durchaus zu spüren. Der Münchner Konzern bezifferte die Belastungen beim Gewinn im zweiten Quartal des Geschäftsjahres 2021/22 auf rund 600 Millionen Euro; vor allem das Geschäft mit Zügen litte unter den Abschreibungen und fahre Verluste ein.
Mit 1,8 Milliarden Euro - so die Nachrichtenagentur Reuters - habe im abgelaufenen Quartal der Gewinn im industriellen Geschäft unter den Erwartungen der Analysten gelegen, die knapp 2,4 Milliarden Euro vorhergesagt hatten. Unter dem Strich brach der Gewinn um 49 Prozent auf 1,2 Milliarden Euro ein, statt wie erwartet 1,5 Milliarden Euro.
Siemens hatte zuletzt nur rund ein Prozent seines Gesamtumsatzes in Russland gemacht. Die weltweite Nachfrage nach Siemens-Produkten ist dagegen weiterhin hoch. Der Auftragseingang verbesserte sich um ein Drittel, der Umsatz stieg um 16 Prozent. Konzernchef Busch betonte aber ein extrem schwieriges Umfeld: Neben dem Ukraine-Krieg spürten die Münchner die Folgen der Corona-Pandemie und es gebe erhöhte Risiken bei elektronischen Bauteilen, Rohstoffen und der Logistik.