Sierens China: Bis euch die Wohnung scheidet
16. September 2016Ende August versammelte sich vor dem Scheidungsbüro im Shanghaier Stadtteil Jing'an von einem Tag auf den anderen eine große Traube von Menschen. Waren in den Jahren zuvor gerade mal zehn Scheidungen am Tag hier die Norm, betrug die Zahl der Scheidungswilligen über Nacht 100 Paare am Tag. Jing'an, nahe dem ehemaligen französischen Konzessionsviertel mit seinen begrünten Alleen und herrschaftlichen Villen, gilt nicht nur wegen der Top-Lage als ein gutes Viertel, sondern ist vor allem wegen seiner Schulen besonders beliebt bei den Shanghaiern. In Shanghai wurde kürzlich von einem Jungen berichtet, der die siebte Klasse besucht, und dessen Eltern sich genau gegenüber der Schule eine achtzig Quadratmeter große Zwei-Zimmer-Wohnung für 3,6 Millionen Yuan (umgerechnet 486.000 Euro) gekauft haben, damit er es nicht mehr so weit zur Schule hat und ausschlafen kann, aber auch, damit er eines Tages eine Mitgift hat, wenn er in ein heiratsfähiges Alter kommt.
Denn es gilt nach wie vor: Wer in China als gute Partie gelten will, muss zumindest eine Eigentumswohnung in guter Lage in die Ehe mitbringen. Und traditionell sind es immer noch die Männer, die schon eine Eigentumswohnung mit in die Ehe bringen sollen. Immer öfter jedoch legen auch die Eltern beider Eheleute in einen Topf, um dem Brautpaar überhaupt eine Wohnung kaufen zu können. Bei den steigenden Immobilienpreisen in Chinas Großstädten hat die Regierung in den Immobilienmarkt eingegriffen, damit er nicht überhitzt und eine Blase droht. Allein im August waren in 30 chinesischen Städten die Durchschnittspreise für neu gebaute Wohnungen rund 14 Prozent höher als 2015. Das nationale Statistikbüro gab sogar an, dass die Preise in Chinas mittelgroßen Städten und Großstädten für neue Wohnungen bisher in jedem Monat dieses Jahres gestiegen sind.
Explodierende Immobilienpreise in Großstädten
In Städten wie Shanghai, Peking und Shenzhen, sind die Preise so stark angestiegen, dass die Behörden die Regeln für Wohnungskäufe von Eheleuten stark reguliert haben. Verheiratete Paare dürfen demnach nur noch unter erschwerten Bedingungen zusätzliches Eigentum erwerben. Nur wer Single ist, kann noch eine Zweitwohnung mit weniger Eigenkapital kaufen. Die Schlange vor dem Scheidungsbüro in Shanghai ist auch darauf zurückzuführen, dass die Behörden einem Gerücht zufolge angeblich über striktere Regeln für den Wohnungskauf von Geschiedenen nachdenken. So sollten frisch Getrennte bis zu ein Jahr Wartezeit haben, bis sie wieder Wohnungen im Singlestatus erwerben können. Oder noch schlimmer, sie sollten als Geschiedene ein Jahr lang nur mit erheblichen Nachteilen Wohnungen kaufen können. Denn vielerorts ist es mittlerweile Praxis, sich als Ehepaar einfach scheiden zu lassen, um als Singles separat einfacher Wohnungen erwerben zu können.
So sind in Shenzhen etwa die verkauften Wohnungen im vergangenen Jahr zu 45 Prozent an Geschiedene gegangen. So hoch legte auch die Scheidungsrate 2015 in Shenzhen gegenüber dem Vorjahr zu. Denn während Singles für Wohnungen nur 30 Prozent des Kaufpreises in bar hinlegen müssen, müssen Verheiratete, die ein zweites Zuhause kaufen wollen, schon 50 oder gar 70 Prozent des Kaufpreises bar aufbringen. Die Lage am Immobilienmarkt ist so angespannt, dass die Behörden in Shanghai nun angeblich überlegen, diese Regelung auch auf Personen anzuwenden, die weniger als ein Jahr geschieden sind. Das wurde zwar von den Behörden in Shanghai dementiert, und die verantwortlichen Makler, die die Gerüchte gestreut hatten, wurden festgenommen. Doch der Wettlauf gegen die Zeit läuft. Jederzeit könnten die Regeln zum Erwerb von Eigentum wieder geändert werden.
Ehe oder gute Rendite?
Wer kein Risiko eingehen will und auch noch im Besitz des notwendigen Eigenkapitals für den Wohnungskauf ist, handelt pragmatisch und lässt sich scheiden. Teils sind es auch Familien, die einfach nicht das Geld besitzen, sich eine Wohnung als Paar zu leisten. Hinzu kommt aber, dass Chinas Generation der Einzelkinder, die nun im heiratsfähigen Alter ist, nicht mehr die Notwendigkeit sieht zu heiraten. Der Grundsatz "bis dass der Tod euch scheidet" ist schon seit Längerem nicht mehr aktuell in China. 3,8 Millionen Paare haben sich im vergangenen Jahr laut dem chinesischen Statistikamt scheiden lassen. 5,6 Prozent mehr noch als 2014. Der Immobilienmarkt trägt seinen Anteil zu den Scheidungen bei.
Vanke, der größte Entwickler nach Umsatz in China, hat jüngst bestätigt, dass die Größe der Flächen, die für Wohnungen verkauft wurden, in 14 Städten wie Peking, Shanghai und Shenzhen innerhalb der ersten Jahreshälfte dieses Jahres um über 47 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum 2015 gestiegen ist. Im Schnitt kostet eine Shanghaier Wohnung in Citylage etwa 45.000 Yuan (6.000 Euro) pro Quadratmeter. Zudem lag die durchschnittliche Rendite von Immobilien bei über zehn Prozent. Damit wird Paaren, die sich noch eine zusätzliche Wohnung leisten können, die Entscheidung immer einfacher gemacht, sich nicht bis zum Tode zu binden. Künftig muss es nicht die verblasste Liebe sein, die zur Scheidung führt. Es kann auch einfach der Wunsch nach noch mehr Rendite sein.
DW-Kolumnist Frank Sieren lebt seit mehr als 20 Jahren in Peking.