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Politik

Das schrumpfende Volk

Frank Sieren
3. April 2019

In China nimmt die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung erstmals seit Jahrzehnten ab. Das ist eine Herausforderung für das Sozial- und Gesundheitssystem, der Untergang des Landes ist es aber nicht, meint Frank Sieren.

China Neues Jahr 2016 Mond Neujahr
In China werden immer weniger Kinder geborenBild: picture-alliance/dpa/X.Yu

Es ist ein Wendepunkt in der jüngeren Geschichte Chinas: 2018 sank die Geburtenrate das zweite Jahr in Folge. 15,23 Millionen Chinesen kamen zur Welt - zwei Millionen weniger als im Vorjahr. So niedrig waren die Werte seit den 1960er-Jahren nicht mehr. Die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter zwischen 16 und 59 ging innerhalb der vergangenen fünf Jahre um 20 Millionen Menschen zurück. Bei diesem Tempo wird die erwerbstätige Bevölkerung vom einstigen Höchststand von 925 Millionen im Jahr 2011 bis 2050 auf 700 Millionen Menschen geschrumpft sein. Dann ist jeder dritte Chinese ein Rentner. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt schon jetzt bei stolzen 77 Jahren und das mit einem Pro-Kopf-Einkommen von Bulgarien.

Für das ökonomische und soziale Gleichgewicht des Landes bringt das große Herausforderungen: Immer weniger Arbeitskräfte müssen die Altersversorgung der über 60-Jährigen gewährleisten. Das relativ schlecht ausgebaute Gesundheits- und Sozialsystem gerät unter Druck.

Seit 2016 dürfen Paare offiziell wieder zwei Kinder haben. Auswirkungen auf die Geburtenzahl hat das aber bisher nicht.Bild: picture-alliance/dpa/Yu Ping

Kein Babyboom trotz Ende der Ein-Kind-Politik

Dass der Trend noch umgekehrt werden kann, ist unwahrscheinlich. Bereits 2016 versuchte Peking gegenzusteuern, in dem es die Ein-Kind-Politik lockerte, mit der der Reformer Deng Xiaoping in den frühen 1980er-Jahren das Bevölkerungswachstum eindämmen wollte. Der Grund: Zu viele Kinder gefährden den allgemeinen Wohlstand. Dem Ziel einer wohlhabenden Gesellschaft ist China längst nähergekommen. Heute sind Paaren daher wieder zwei Kinder erlaubt. Der Babyboom blieb jedoch aus: In Jinan, der Hauptstadt der bevölkerungsreichen Provinz Shandong zum Beispiel wurden zwischen Januar und November 2018 nur rund 81.000 Kinder geboren - 21 Prozent weniger als im Vorjahr.

Das liegt jedoch nicht daran, dass "Chinas Bevölkerung den Glauben an die Zukunft zu verlieren scheint", wie kürzlich in einer großen deutschen Zeitung zu lesen war, sondern daran, dass für viele junge Chinesen heute die berufliche Karriere eine wichtigere Rolle spielt. Die Eltern arbeiten lieber und die Großeltern wollen nicht mehr als einen Enkel großziehen. Und Kinder zu haben wird immer teurer. Die Wohnungen, die Gesundheitsversorgung und die Ausbildung kosten immer mehr Geld. Deshalb konzentrieren viele Familien ihre Aufmerksamkeit lieber auf ein Kind. So wie sie es aus ihrer Kindheit kennen. Denn die meisten sind selbst als Einzelkinder aufgewachsen. Hinzu kommt: Da es kaum Altersheime gibt, leben pflegebedürftige Eltern oft bei ihrem Nachwuchs. Darüber hinaus hat die Ein-Kind-Politik ein unausgeglichenes Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen begünstigt. Die Zahl der Chinesinnen im gebärfähigen Alter nimmt immer weiter ab. Die Land-Stadt-Flucht ist ebenfalls ein Faktor. Wer in die Stadt geht, hat keinen Platz und keine Zeit für Kinder. Die Folge: In manchen ländlichen chinesischen Provinzen ist die Geburtenrate um ein Drittel eingebrochen.

Die gleiche Entwicklung wie in allen Industriestaaten

Noch liegt China mit über 1,4 Milliarden Menschen als bevölkerungsreichstes Land der Erde vor Indien mit 1,34 Milliarden. Das wird sich jedoch schon bald ändern: Chinas Bevölkerung wird 2029 mit 1,49 Milliarden Einwohnern einen Höchststand erreicht haben und ab dann unaufhaltsam schrumpfen. Das ist allerdings eine normale Entwicklung. Fast alle Industriestaaten haben sie durchlaufen, allen voran Chinas Nachbarländer Südkorea und Japan. Dennoch geht es diesen Ländern wirtschaftlich sehr gut. Das liegt auch daran, dass die Alten heute mehr konsumieren als früher.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Seinen Bevölkerungsverlust könnte China durch mehr Einwanderung wettmachen, ähnlich wie die USA, Deutschland oder Australien. Noch ist das Land relativ homogen und abgeschottet, öffnet sich jedoch immer mehr zur Welt. Die "Neue Seidenstraße" könnte dabei einen positiven Einfluss haben. Schon heute leben und arbeiten mehr Ausländer in China als je zuvor, immer mehr auch aus Afrika. Einwanderungsland ist China aber noch lange nicht. Als Westeuropäer oder Afrikaner die chinesische Staatsbürgerschaft zu bekommen ist fast unmöglich.

"Die Geburt eines Babys ist nicht nur eine Frage der Familie, sondern ein Vorgang von nationalem Rang", schreibt die staatliche Zeitung People's Daily. Das klingt staatstragend, wird aber nicht viel ändern. Die einzige Möglichkeit: Die chinesische Regierung muss mehr Anreize schaffen, um Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Dabei kann sie viel von westlichen Industrienationen lernen, etwa wenn es um flexible Arbeitszeiten, bezahlte Elternzeit, Kindergeldfonds oder Steuererleichterungen für Eltern geht. All das wird bereits diskutiert. In der sehr wettbewerbsorientierten Gesellschaft Chinas wird es jedoch nicht einfach, die Unternehmen von einer kinderfreundlichen Politik zu überzeugen. Ganz wichtig: Der Staat muss verhindern, dass die Unternehmen dann einfach weniger Frauen einstellen.

Altenpflege als Herausforderung der Zukunft

Große Entlastung könnte auch eine bessere Altenpflege sein. In einer Parteitagsrede forderte Xi Jinping zuletzt ihren systematischen Ausbau. Dazu braucht China auch bessere Versicherungen. Der lukrative Dienstleistungsmarkt für Altenpflege soll laut Chinas Reform- und Entwicklungskommission NDRC demnächst mehr für private chinesische, aber auch ausländische Investoren geöffnet werden. Wo Pfleger fehlen, können sie im Ausland "eingekauft" werden. Junge Menschen, die sich für dieses Berufsfeld entscheiden, sollen finanzielle Anreize erhalten. Arbeitnehmer sollen leichter Urlaub nehmen können, um sich um ihre Eltern zu kümmern. In den großen Städten ist bereits ein Netz von nachbarschaftlichen Pflegestationen entstanden, die vom Staat finanziert werden. Oftmals beschränken die Angebote sich jedoch auf ambulante Beratungen, Blutdruck- und Fiebermessungen.

Wie die immer mehr Alten versorgen?Bild: Getty Images/China Photos

Gleichzeitig fördert die Regierung die Entwicklung von Pflegerobotern und Maschinen. Aber es wird noch dauern, bis sie im großen Stil in der Pflege zum Einsatz kommen. Allerdings könnten Roboter generell ein Schlüssel zur Lösung des Problems sein: Denn durch die Automatisierung der Fabriken werden viel weniger Fabrikarbeiter gebraucht. Insofern ist es nicht so schlimm, wenn die Geburten zurückgehen und Zahl der Arbeitskräfte sinkt. Das Wirtschaftswachstum muss deshalb nicht unbedingt sinken. Chinas Fabriken der Zukunft könnten durchaus in der Lage sein, mit viel weniger Personal mehr Wachstum zu schaffen.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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