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Sierens China: Die Chinesen kommen

Frank Sieren
4. Oktober 2018

Zur "Golden Week" reisen auch dieses Jahr wieder Millionen Chinesen ins Ausland. Besonders in der Mittelschicht wächst die Reiselust. Das gibt China eine politische Trumpfkarte in die Hand, meint Frank Sieren.

Chinesische Touristinnen in Frankreich
Bild: AFP/Getty Images/B. Horvat

Auf den ersten Blick wirkten die verwackelten Aufnahmen einer auf dem Bordstein barmenden und klagenden Familie, als stammten sie aus einem Krisengebiet. Dabei entstanden die Bilder vor einem Hostel in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Anfang September wollte dort ein junger Mann aus China nachts mit seinen betagten Eltern einchecken. Leider gut einen halben Tag früher als gebucht. Als sie nicht freiwillig wieder gehen wollten wurden die Besucher kurzerhand auf die Straße verfrachtet und später von der Polizei an einer U-Bahn-Station in Bahnhofsnähe ausgesetzt. Besagtes Video des Vorfalls ließ nicht nur in den sozialen Medien Chinas einmal mehr die Diskussion über den schlechten Ruf chinesischer Touristen hochkochen. Man begegne ihnen im Ausland nicht mit genügend Respekt, beklagten die einen. Außerhalb der eigenen Landesgrenzen benehmen sie sich einfach unverschämt, die anderen.

Chinesische Touristen als Wirtschaftsfaktor

Fakt ist: An chinesischen Touristen kommt keiner mehr vorbei. An ihnen hängt die Zukunft einer ganzen Branche. Diese Woche werden während der "Golden Week" wieder rund 700 Millionen Chinesen verreisen, sieben Millionen davon ins Ausland. Die "größte jährliche Völkerwanderung der Welt", wie die traditionell an den Nationalfeiertag anschließende chinesische Ferienwoche gerne genannt wird, ist eine Erfindung der Regierung. 1999 wurde sie zum 50. Jubiläum der Volksrepublik ins Leben gerufen und sollte vor allem den Binnen-Tourismus ankurbeln. Seit die zu Wohlstand gekommene wachsende Mittelschicht des Landes ihre Reiselust entdeckt hat, ist China jedoch auch im globalen Massentourismus zu einem bestimmenden Wirtschaftsfaktor geworden. Und das nicht nur zur "Golden Week".

Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

In diesem Jahr werden rund 156 Millionen Bürger aus dem Reich der Mitte eine Auslandsreise machen. Tendenz steigend. Vor zehn Jahren waren es nur knapp 44 Millionen. Die beliebtesten Ziele sind nach wie vor die Nachbarländer Thailand, Japan und Vietnam. Aber auch in Europa, Nord- wie Südamerika und Australien sind die chinesischen Touristen auf dem Vormarsch. "Sie sind wichtig, weil sie zwei Dinge kombinieren", sagt zum Beispiel Rafael Cascales, der Präsident der spanisch-chinesischen Tourismus-Organisation ATEC. "Sie kommen in großer Anzahl und geben vier Mal mehr Geld aus als Touristen aus anderen Ländern." Besonders bei Städtereisen sind die Chinesen ausgabefreudig. Im Schnitt machen sie 350 US-Dollar pro Tag locker, meist für Essen, Kleidung, Kosmetik und Schmuck.

Hochglanzbroschüren werben für weltweite Ziele

Viele Tourismus-Ämter versuchen bereits, den Chinesen das eigene Land mit Werbung und Broschüren in Mandarin schmackhaft zu machen. Frankreich lockt zur Weinprobe nach Bordeaux. Sachsen setzt auf Bach und Semperoper. Für die EU, wo im Tourismus-Sektor zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung erwirtschaftet und rund 25 Millionen Menschen beschäftigt werden, sind die Chinesen ein willkommener Stabilitäts- und Wachstumsfaktor, zumal sie feiertagsbedingt oft antizyklisch zur traditionellen westlichen Hochsaison kommen. 

Chinesinnen auf Schloß Schwanstein in BayernBild: dpa

Doch es gibt auch Schattenseiten des Tourismusbooms. Während europäische Ziele wie Venedig und Neuschwanstein unter dem chinesischen Ansturm ächzen, gefährdet er anderswo ganz real das natürliche Gleichgewicht – und damit genau das, was die Orte erst zu Touristenzielen machte. Malerische Flecken wie die Halong-Bucht in Vietnam oder das königliche Küstenstädtchen Hua Hin in Thailand haben in den letzten Jahren aufgrund der wachsenden Besucherzahl an Attraktivität eingebüßt. Reisfelder wurden zubetoniert. Hotels, Ladenzeilen und Restaurants schießen aus dem Boden. Touristenboote verpesten die Luft. Korallenriffe werden kaputt getrampelt. Auf der indonesischen Ferieninsel Bali wächst nicht nur die Umweltverschmutzung, auch das Frischwasser wird nun knapp. Die Ferienanlagen verbrauchen inzwischen mittlerweile rund 65 Prozent des auf der Insel verfügbaren Wassers. Auch hier werden die immer stärker anschwellenden Besucherströme aus China mit Besorgnis betrachtet. Allein in den vergangenen beiden Jahren stieg die Zahl der chinesischen Touristen hier von 986.000 auf 1,4 Millionen an. Wann sind die Grenzen des Wachstums erreicht? Es geht noch was, sagen die Fremdenverkehrsämter. Die Naturschützer rufen bereits: Stopp.

Unklare Geldflüsse

Dazu kommt: Das Geld kommt oft nicht immer da an, wo es gebraucht wird. Viele Chinesen entdecken erst langsam den Individual-Tourismus. Besonders die Älteren buchen nach wie vor All-Inclusive-Pauschalreisen über chinesische Anbieter, bei denen sie in Busladungen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit und von Geschäft zu Geschäft gekarrt werden. Die Geschäfte sind dabei oft selbst direkt oder indirekt in chinesischer Hand. Ein Großteil der Einnahmen fließt über chinesische Bezahlapps wie "Alipay" ohne Währungsumtausch direkt auf Konten nach China. Bei den Einheimischen werden solche Besucher auch als "Zero-Dollar-Touristen" bezeichnet, denn sie bringen ihnen kaum etwas ein.

Die chinesische Regierung plant, die heimischen Reiseanbieter künftig stärker in die Pflicht zu nehmen. Für Peking ist der Tourismus-Boom auch eine wichtige politische Trumpfkarte. Das zeigte sich zum Beispiel, als Peking dieses Jahr trotz Protesten aus Washington zwei große amerikanische Airlines dazu zwingen konnte, "Taiwan" als eigenständiges Land von ihren Webseiten zu streichen. Auch in Südkorea setzte Peking den Hebel im Tourismus-Sektor an, nachdem Seoul den Amerikanern erlaubt hatte, ein Raketenabwehrsystem auf ihrem Boden zu errichten. Das Pekinger Tourismusministerium stoppte daraufhin Gruppenreisen nach Südkorea.

Wegen der Spannungen reisen immer weniger Chinesen in die USABild: Getty Images/AFP/A. Caballero

Weniger Reisen in die USA gebucht

Die Bank of Korea schätzt, dass der chinesische Boykott das Land im letzten Jahr 0,4 Prozent seines Wirtschaftswachstums gekostet hat. Auch im derzeitigen Handelsstreit mit Donald Trump ist denkbar, dass Peking den Tourismus als Waffe einsetzen wird. 2016 machten chinesische Touristen die drittgrößte Gruppe ausländischer Besucher in den USA aus. Dabei griffen sie auch hier überdurchschnittlich tief in die Tasche. Allein dem US-Einzelhandel brachten chinesische Touristen 2016 knapp 35 Milliarden US- Dollar ein. Aber nicht nur der Einzelhandel, auch das Gastgewerbe und die Luftfahrt wären von ihrem Ausbleiben betroffen. Seit Trump den Handelsstreit im Frühjahr vom Zaun brach, sind die Reisen in die USA bereits rückläufig. Zur "Golden Week" verzeichneten die Fluganbieter 42 Prozent weniger Buchungen in die USA als im Vorjahr zu Ferienbeginn. Der Patriotismus und die schlechte Presse scheinen bereits Wirkung zu zeigen. 

Auch in der Affäre um die abgewiesenen Touristen in Stockholm schaltete sich die chinesische Regierung zwei Wochen nach dem Vorfall ein. Schwedens Polizei habe das Leben chinesischer Bürger "ernsthaft gefährdet" und deren Menschenrechte verletzt, erklärte die chinesische Botschaft in Stockholm. Ob die im gleichen Atemzug ausgesprochene Reisewarnung, die möglicherweise auch mit einem Schweden-Besuch des Dalai Lama Mitte September zu tun haben könnte, sich wirklich auf den Tourismus des skandinavischen Landes ausgewirkt hat, werden die Zahlen zeigen, wenn die "Golden Week" vorüber ist.

 

Unser Kolumnist, Frank Sieren, lebt seit über 20 Jahren in Peking.