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Politik

Epidemie der Gerüchte

Frank Sieren
5. Februar 2020

In der Coronavirus-Krise verbreiten sich Falschinformationen und rassistische Ausgrenzung fast schneller als die Epidemie selbst. Sowohl in China wie auch weltweit, meint Frank Sieren.

China, Wuhan: Coronavirus
Grenzbeamte in Thailand, die die Heimreise von Landleuten aus Wuhan betreuenBild: Reuters/ Royal Thai Navy

Die Krise um das Coronavirus sei vor allem auch eine massive "Infodemie", klagt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Wie schnell sich Panik, Falschmeldungen und sogar rassistische Vorurteile mit dem Coronavirus ausgebreitet haben, ist erschreckend.

Weltweit berichten asiatisch aussehende Menschen davon, wie sie gemieden oder sogar offen angefeindet werden. In Berlin wurde eine junge Chinesin auf offener Straße zusammengeschlagen. In Rom verweigerte eine Bar am Trevi-Brunnen "allen Menschen, die aus China kommen" den Eintritt. Und das sind nur zwei von vielen Erlebnissen, über die die Betroffenen unter dem Hashtag "Ich bin kein Virus" in den Sozialen Medien berichten.

Zusammenhalt und Spaltung in China

In China selbst stärkt die Krise einerseits den Zusammenhalt der Chinesen gegenüber der Außenwelt. Die Zentralregierung bekommt gute Noten. Anderseits spaltet sich das Land nun in Gefährder und Gefährdete, wobei die Linie oft willkürlich, heftig und unfair gezogen wird.

Besonders Menschen aus Wuhan und der Provinz Hubei werden zum Teil wie Aussätzige behandelt. In Online-Foren werden sie für die Krise verantwortlich gemacht. Immer wieder kommt es zu Fällen, in denen Hotels oder Restaurants Gäste aus den stark betroffenen Regionen abweisen. Vor einem Flug von Japan nach Schanghai gerieten Passagiere aus der ostchinesischen Provinz Zhejiang beinahe körperlich mit Chinesen aus Wuhan aneinander, weil sie nicht im selben Flugzeug sitzen wollten. In nicht wenigen Dörfern Chinas haben die Bewohner in einer Art Selbstjustiz mittlerweile mittelalterlich anmutende Straßensperren errichtet, um ihre Gemeinde vor Fremden zu schützen.

Die sozialen Folgen des Virus werden zu einem ähnlich großen Problem wie das Virus selbst. Die Regierung ist hin- und hergerissen: Einerseits soll Offenheit helfen, das Virus zu bekämpfen. Anderseits dürfen haltlose Gerüchte nicht die Stimmung aufheizen.

Internationale Überreaktionen

Wenig Einfluss hat Peking auf die internationalen Überreaktionen. Viele Chinesen fragen sich jedoch inzwischen, ob die Berichterstattung noch angemessen ist - vor allem im Vergleich zu anderen Epidemien in der Vergangenheit. Da wird zum Beispiel hartnäckig von einer Pandemie gesprochen, also einer Epidemie, die sich weltweit flächendeckend ausbreitet, obwohl die WHO ausdrücklich betont, dass es sich derzeit um keine Pandemie handelt, sondern nur um Einzelfälle in lediglich 20 Ländern.

Dass die Weltgesundheitsorganisation Peking für seine Maßnahmen ausdrücklich lobt, kommt den Chinesen in der Berichterstattung zu kurz. China habe Standards für kommende Epidemien gesetzt, erklärte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. Dass man dennoch eine "internationale Notlage" ausgerufen habe, liege vor allem daran, dass man andere Länder schützen müsse, die nicht so gut auf das Übergreifen eines solchen Virus reagieren könnten wie China. Allerdings sagt die WHO ausdrücklich, dass sie keine Reisewarnung für China ausspreche und auch keine Handelsbeschränkungen wünsche.

WHO-Chef Tedros Adhanom GhebreyesusBild: picture-alliance/KEYSTONE/J.-C. Bott

Nicht nur die Sozialen Medien und die professionellen Nachrichtenangebote der westlichen Welt schießen zuweilen über das Ziel hinaus. Auch amerikanische Politiker nutzen das Virus für ihren Machtkampf mit China. Im Alleingang und gegen den Rat der WHO hat Washington China inzwischen auf eine Stufe mit Afghanistan, Irak oder Libyen gestellt - Länder in denen "lebensbedrohliche Risiken wahrscheinlicher" sind.

Millionenfache Empörung in China

Das sei "keine Geste des guten Willens", kommentiert ein Regierungssprecher in Peking. Millionenfache Empörung hat in den chinesischen Sozialen Medien auch eine Äußerung des amerikanischen Handelsministers Wilbur Ross ausgelöst. Er sagte, das Virus, an dem tausende Menschen erkrankt und hunderte gestorben sind, helfe "die Entwicklung zu beschleunigen, dass mehr Jobs nach Nordamerika zurückkehren". Ein Sprecher seines Ministeriums fügte später hinzu, dass man nun zwar zuerst das Virus bekämpfen müsse, es aber auch wichtig sei, "die Konsequenzen zu erwähnen, die es hat, wenn man mit einem Land Geschäfte macht, das eine lange Geschichte hat, reale Risiken gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem Rest der Welt zu verschleiern".

Ein provisorisch eingerichteter Krankensaal in einer Sporthalle in WuhanBild: imago images/Xinhua

In den Sozialen Medien wird der amerikanischen Regierung vorgehalten, im Glashaus zu sitzen und mit Steinen zu werfen.  Sie habe sich 2009 beim Ausbruch der Schweinegrippe viel "sorgloser" und "vertuschender" gegenüber ihren Bürgern und der Welt verhalten. Die Seuche wurde von dem Virus H1N1 ausgelöst. Bei dieser von der WHO im Unterschied zum Coronavirus als Pandemie eingestuften Krankheit starben 280.000 Menschen weltweit in mehr als 200 Ländern. Über 10.000 allein in den USA. "Wurde mit Amerikanern damals genauso hässlich umgegangen wie mit uns Chinesen heute?" fragen viele chinesische User nun rhetorisch. Manche halten den Umgang der Welt mit dem Virus - "Made in China" wie das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" titelt - schlicht für rassistisch. Und die chinesische staatliche Zeitung "Global Times" fragt: Was wäre passiert, wenn ein chinesischer Spitzenpolitiker damals gesagt hätte, das "amerikanische Virus" treibe mehr Investitionen nach China? Die Antwort liegt in der Tat auf der Hand: Es hätte einen weltweiten Aufschrei der Empörung gegeben. In dieser Frage stehen der chinesische Staat und seine Bürger Seite an Seite.

Misstrauen gegenüber der neuen Transparenz

Aber selbstverständlich brodelt in China gleichzeitig auch großes Misstrauen gegenüber der neuen Transparenz des Staates. Zu lange wurden in der Vergangenheit Ereignisse verschwiegen oder Fakten beschönigt. Und auch dieses Mal haben die chinesischen Behörden anfangs die Gefahren des Virus zunächst vertuscht oder zumindest grob unterschätzt. In Wuhan wussten die Behörden bereits am 8. Dezember von einem ersten Infizierten. Doch sie waren mit der Lage offensichtlich überfordert. Die offizielle Warnung folgte erst drei Wochen später. Auch die Meldung, Mensch-zu-Mensch-Übertragungen könne man aller Wahrscheinlichkeit nach ausschließen, kam ganz offensichtlich zu früh. Und dass bei Ausbruch des Virus mehrere Ärzte, die Warnungen ausgesprochen hatten, festgenommen wurden, steigert das Vertrauen der Menschen in die Politik nicht.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Immerhin: Die chinesische Führung hat inzwischen "Unzulänglichkeiten und Defizite" in der Reaktion auf den Corona-Ausbruch eingeräumt. Der Ausbruch sei ein "wichtiger Test für Chinas System und die Fähigkeit zur Regierungsführung", erklärt Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping. Die Maßnahmen müssten deshalb weiter "rasch und entschlossen" sein, die Anordnungen und Verbote "strikt durchgesetzt" werden. "Wir müssen die Erfahrungen zusammenfassen und Lehren daraus ziehen", ließ Xi das Politbüro verbreiten. Das nationale Krisenmanagement müsse verbessert werden. Das Gesundheitssystem soll untersucht und "Mängel" beseitigt werden.

"Solche Einschätzungen würde man sich im Westen auch wünschen", liest man in den chinesischen Sozialen Medien. Auf der Kurznachrichtenplattform Weibo gab die Kommunistische Partei eine neue Richtung vor: Die Kader müssten nun möglichst viel Offenheit zeigen. Wer Infektionen in seiner Region vertusche oder seine eigenen politischen Interessen über die Gesundheit des Volkes stelle, müsse mit schweren Strafen rechnen. Kader würden "für die Ewigkeit an den Pranger der Schande genagelt", sollten sie Krankheitsfälle unterschlagen. Sogar eine App ist freigeschaltet, in der Bürger Vertuschungen von lokalen Funktionären und Behörden anprangern können.

Schnelles Ende der völligen Offenheit

Allerdings ist die Zeit der völligen Offenheit schon wieder vorbei. Die Behörden zensieren offene Kritik auf den Social-Media-Kanälen nach einer kurzen Periode der Lockerung nun wieder verstärkt. Wer "Gerüchte streut", wird verhaftet, heißt es. Und was ein Gerücht ist, entscheidet im Zweifel die Partei.

China wird weiterhin vor allem als repressiver Staat wahrgenommenBild: picture-alliance/dpa/M. Schiefelbein

Nach dieser Krise wäre Peking allerdings gut beraten, mehr Transparenz und kompetente zivilgesellschaftliche Diskussionen zuzulassen. Und darüber hinaus ein System mit flacheren Hierarchien und weniger Zensur zu fördern. Denn Zensur verströmt immer die Aura des Verschweigens, ob sie mit guten Intentionen geschieht oder nicht. Und wenn Kader, statt um ihre Karriere zu fürchten, für Frühwarnungen belohnt würden, würde die Verantwortung in so einer Krise sicher nicht wie eine heiße Kartoffel hin und her gereicht. Auch in dieser Hinsicht hat China die Chance, gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen - mit einer neuen, dauerhaften Transparenz.

Die Chance aus Fehlern zu lernen sollte aber auch der Westen nutzen. Politiker und Medien sollten sich zumindest nach dieser Krise zwei Fragen stellen: Waren die Einschätzungen und die Berichterstattung angemessen? Und: Wurden die Chinesen ebenso fair behandelt wie Menschen in anderen Teilen der Welt?

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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