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Politik

Gestreamtes Leid ist halbes Leid

Frank Sieren
19. Februar 2020

Weil viele Städte abgeriegelt sind und die Menschen weniger außer Haus gehen, boomt Live-Streaming in China. Die Corona-Epidemie kann die Innovationskraft der Chinesen nicht lahmlegen, meint Frank Sieren.

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Ausstellungsstand von Bilibili - dem führenden Streaming-Portal für Videos in ChinaBild: picture-alliance/dpa/W. Gang

Seit dieser Woche gilt in Wuhan eine totale Ausgangsperre. Die Bewohner im Epizentrum des Coronavirus dürfen nur noch alle drei Tage nach draußen, um Essen einzukaufen. Wohnkomplexe, in denen Infektionen nachgewiesen wurden, sind nun komplett abgeriegelt. Zynische Chinesen nennen es "den Frosch im kalten Wasser kochen": eine schrittweise Verschärfung der Maßnahmen, die dazu führen soll, die Menschen nicht von einem Tag auf den anderen zu überrumpeln sondern sie langsam an eine gefährliche Lage zu gewöhnen. Selbst im fernen Peking geht man derzeit nur vor die Tür, um das Nötigste zu besorgen.

Für Millionen von Menschen ist das eine psychologische Extremsituation. Erstaunlich ist, wie gelassen die meisten Chinesen damit umgehen. Das hängt auch mit der guten digitalen Vernetzung des Landes zusammen. Die Menschen verbrachten schon vor der kollektiven Quarantäne viel mehr Zeit in virtuellen Welten als die Europäer. Nirgendwo sonst kann man so viele Dinge online erledigen oder billig und unkompliziert Waren und Essen bestellen wie in China. Das Unterhaltungsangebot im chinesischsprachigen Internet ist riesig, von unzähligen Video- und Gaming-Plattformen bis hin zu den multifunktional einsetzbaren Messenger-Apps wie WeChat. Der Alltag hat sich nun fast komplett ins Netz verlagert, eine Welt, die vielen Chinesen längst geläufig ist. Das mindert das Gefühl, eingesperrt zu sein.

Der bereits größte Streaming-Markt der Welt boomt jetzt

Live-Streaming erlebt geradezu einen Boom. Dabei war China bereits vor der Virus-Krise der größte Live-Streaming Markt der Welt. Auf rund 900 Plattformen tummeln sich zehn Millionen aktive Nutzer, darunter unzählige Influencer, die durch ihre Kanäle reich oder zumindest berühmt geworden sind, zum Beispiel die zierliche Hu Tongtong, die sich beim Verzehren riesiger Mahlzeiten filmt, oder der charismatische Li Jiaqi, der mit seinen Lippenstift-Tests regelmäßig Verkaufsrekorde auf der chinesischen E-Commerce-Plattform Taobao bricht. Um diese Stars live zu erleben, muss man nicht vor die Tür.

Musik, Kosmetik, Mode, Essen - zu allen Themen sind chinesische Influencerinnen verfügbar

Live-Streaming ist nicht nur zu Zeiten des Virus ein lukratives Geschäft: 4,4 Milliarden US-Dollar Umsatz hat die Branche 2018 erzielt, hat der Wirtschaftsprüfer Deloitte ausgerechnet. Oft werden die Top-Streamer von großen Firmen unter Vertrag genommen. Fans können ihnen aber auch direkt virtuelle Geldgeschenke machen, fast alle Plattformen verfügen über eine an den digitalen Geldbeutel angeschlossene Belohnungsfunktion. Ein digitales Trinkgeld sozusagen. Alle großen chinesischen Firmen vertreiben ihre Produkte heute auch via Live-Streaming. Als die moderne Version klassischer Shopping-TV-Kanäle sprechen sie vor allem junge Menschen an. Die Kundenbindung und das Vertrauen in die Produkte und Dienstleistungen wird durch die als direkter empfundene Kommunikation gestärkt, während die bekannten Gesichter der Influencer Nachfrage schaffen, wo vorher keine war.

Konzerte, Unterricht und Fitness im Stream

Das Virus hat nun dafür gesorgt, dass sich das Spektrum im Live-Streaming immer weiter ausweitet: Fitnessstudios bieten mehr Online-Kurse an, Konzerthäuser veranstalten "Cloud Festivals", bei denen sie Auftritte der Musiker direkt aus dem Wohnzimmer übertragen. Auch Tele-Unterricht erlebt derzeit einen Boom, denn landesweit sind die Schulen geschlossen. Inzwischen gibt es eine "nationale Cloud-Lernplattform", die Unterrichtseinheiten überträgt. Um eine einwandfreie Übertragung zu garantieren, hat Peking die drei größten Telekommunikationsanbieter China Mobile, China Unicom und China Telecom zur Mitarbeit verpflichtet. Auch Tech-Giganten wie Huawei, Baidu und Alibaba unterstützen die Plattform mit Bandbreite und 7000 Extra-Servern.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Auch das Homeoffice, ein in China bislang wenig diskutiertes Arbeitsmodell, erlebt durch die kollektive Quarantäne einen ungeahnten Schub. Davon profitieren vor allem die Anbieter von Smartwork-Apps, mit denen man zum Beispiel online Videokonferenzen abhalten kann. So schoss DingTalk, eine Anwendung von Alibaba in den chinesischen App-Stores, innerhalb kürzester Zeit von Platz 37 auf Platz drei. Auch andere Apps zur Unternehmenskommunikation wie Tencents WeChat Work sind derzeit gefragter denn je. Viele Arbeitnehmer klagen nun sogar über mehr Arbeitsbelastung, da die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit ohne klare Regularien zunehmend verwischen. Einige Firmen verlangen von ihren Mitarbeitern offenbar auch regelmäßig gestreamte Selfie-Videos vom Homeoffice-Arbeitsplatz, damit ja keiner blau macht. Nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Immerhin: Statt sich fürs Büro zurecht zu machen kann man sich für die Videokonferenz mit den Apps einfach einen Beauty-Filter übers Gesicht legen.

All das wäre nicht möglich ohne schnelle Internetverbindung und die Offenheit der Chinesen gegenüber neuer Technik. Selbst eine Epidemie kann die Anpassungsfähigkeit und die Experimentierfreudigkeit der Chinesen nicht lähmen. Im Gegenteil: Sie machen aus der Not eine Tugend.

Beitrag zum Zusammenhalt der Menschen

Auch die Regierung hat das Potenzial des Live-Streamings erkannt und nutzt es intensiv, etwa indem sie eine Konferenz der Gesundheitskommission ins Netz überträgt oder den Bau des Notfallkrankenhauses in Wuhan. Zu Spitzenzeiten wurde der Einsatz an der Baustelle von über 60 Millionen Menschen gleichzeitig angesehen. Viele haben sicherlich auch aus Langeweile zugeschaut, wie die Fertigteile zusammengeschraubt wurden. Und dennoch hat auch dies zum Zusammenhalt der Menschen beigetragen. All das hilft, die Menschen bei der Stange zu halten und das Gefühl des Kontrollverlustes zu minimieren. Durch die Unmittelbarkeit des Live-Streamings fühlen sich die Menschen daran erinnert, dass sie nicht alleine sind in dieser psychologischen Extremsituation. Geteiltes Leid ist halbes Leid - besonders dann, wenn es millionenfach gestreamt wird.

Wie wichtig und emotional dieser Austausch sein kann, zeigte sich bei einem kürzlich online abgehaltenen Produktlaunch des chinesischen Smartphone-Herstellers Xiaomi. Bevor der aus der vom Virus am stärksten betroffenen Region Hubei stammende Firmengründer Lei Jun zur Tagesordnung überging, wandte er sich persönlich an die Zuschauer: "Wuhan ist eine Stadt der Helden. Die Menschen dort sind mutig, selbstbewusst und optimistisch. Unser Leben mag von der Epidemie beeinträchtigt sein, uns besiegen wird sie nicht", sagte Lei mit Mundschutz und Tränen in den Augen. Das ist eben nicht nur Propaganda, wie vielleicht manche im Westen vorschnell vermuten. Für die eingeschlossenen Menschen ist das eine wichtige Botschaft, von einem von ihnen. Am Ende werden es solche Bilder, Texte und eben auch Erlebnisse des virtuellen Zusammenhaltes sein, die neben dem vielen Leid und den Zumutungen in China von der Virus-Epidemie im kollektiven Gedächtnis bleiben werden.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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