Ein Visionär auf dem Weg zur Tür
12. September 2018Jetzt werden sie wieder überall geteilt, die vielen inspirierenden Reden und Zitate, die im Laufe von Jack Mas Karriere aufgezeichnet wurden. Jeder, der aus China kommt, oder sich mit China beschäftigt, kennt mindestens eines davon. Die wohl faszinierendste Video-Ansprache stammt aus dem Jahr 1999, dem Gründungsjahr von Mas Firma Alibaba. Es zeigt den damals 35-Jährigen, wie er eine Gruppe von Freunden und Geschäftspartnern in einem spartanischen Appartement dazu auffordert, globaler zu denken. "Unsere Wettbewerber sitzen nicht in China, sondern im Silicon Valley", sagt er mit erhobenem Zeigefinger. Die auf geblümten Sofas sitzenden Zuhörer schauen ernst bis ängstlich zu ihm auf. Ihnen stünden einige schmerzhafte Jahre bevor, erklärt Ma. "Aber mit unserer Innovationskraft können wir alle schlagen."
So beginnen Legenden. Denn natürlich weiß niemand von den hunderten, wahrscheinlich sogar tausenden Startups, in denen ähnliche Reden gehalten wurden, die danach jedoch wieder verschwunden sind. Doch Ma hat es geschafft. Nicht mehr nur in Asien stellten ihn viele auf eine Stufe mit Jeff Bezos, Bill Gates und Steve Jobs, als er diese Woche im Alter von 54 seinen Rücktritt als Präsident des Alibaba-Imperiums ankündigte. Noch ein Jahr bis zum 20. Jubiläum seiner Firma im September 2019 will er als Vorstandsvorsitzender im Amt bleiben. Danach möchte sich der ehemalige Englisch-Lehrer auf sein Privatleben, Stiftungsarbeit sowie Umweltschutz-, Bildungs- und Erziehungsprojekte konzentrieren.
Vorwegnahme der Politik von Xi Jinping
Ganz überraschend kommt das nicht. "Ich möchte lieber am Strand sterben als in einem Büro", hatte er erst vergangenes Jahr in einem Interview erklärt. Wie Chinas Präsident Xi Jinping potenziell auf Lebenszeit an der Macht zu bleiben, wünscht sich Ma also nicht. Dabei hat er seinem Land während seiner verblüffenden Karriere fast genauso viel neues Selbstvertrauen eingeflößt wie Xi. Er hat die Politik Xis sogar in Teilen vorweggenommen.
Mit Alibaba hat Ma ausländischen Silicon-Valley-Platzhirschen wie Google und Facebook tatsächlich das Fürchten gelehrt und nebenbei die Gründungslust seiner Landsleute angefacht. Die Botschaft des Mannes mit der hohen Stirn und den schätzungsweise 36 Milliarden Dollar auf dem Konto kam an: Jeder kann es schaffen, vorausgesetzt er bringt genügend Beharrlichkeit und Opferbereitschaft mit.
Gerne erzählt Ma, der mehrmals durch die Uni-Aufnahmeprüfung rasselte, wie er einst mit 24 anderen versuchte bei der Fastfoodkette KFC anzuheuern und als einziger Bewerber keinen Job bekam. Als junger Mann führte er Touristen um den berühmten Westsee seiner Heimatstadt Hangzhou, um sein Englisch zu verbessern. Seinen ersten Computer erwarb er erst mit 33. Seine erste Webseite, ein chinesisches Brachenverzeichnis, war so langsam, dass die Mitarbeiter drei Stunden mit Pokern totschlagen mussten, bis sie geladen hatte. Eine geradlinige Erfolgsstory sieht anders aus. Ma blieb trotzdem dran. "Innovativ zu sein bedeutet, mit der Sicht von morgen auf die Welt von heute zu blicken", lautet einer seiner Maximen. Mit Alibaba tat Ma genau das. Seine an zahlreichen Rückschlägen geschärften Visionen machten aus einem kleinen Internetportal ein global expandierendes E-Commerce- und Entertainment-Imperium. 2014 gelang Alibaba mit einem 25 Milliarden Dollar schweren Börsengang das bisher größte Debüt in der Geschichte der Wall-Street. Ein Börsengang des finanziellen Arms von Alibaba, Ant Financial, soll angeblich bald folgen. Der Siegeszug von Alibaba ist also noch lange nicht zuende.
Einer der beliebtesten Prominenten der Volksrepublik
Dennoch ist es eine kluge Entscheidung von Ma, als CEO jetzt abzutreten. Seine philosophischen Auftritte als Startup-Visionär, aber auch seine selbstironischen Exkurse in die Schauspielerei und Sangeskunst haben ihn in den vergangenen Jahren zu einem der beliebtesten Prominenten der Volksrepublik gemacht. Eine Person des öffentlichen Lebens und gleichzeitig Schlüsselfigur eines börsennotierten Unternehmens zu sein, ist jedoch äußerst riskant. Am eigenen Leib erfuhr das zuletzt Richard Liu, der Chef des Alibaba-Wettbewerbers JD.com, der zusammen mit seiner glamourösen Ehefrau Zhang Zetian in China ebenfalls Prominentenstatus genießt. Liu wurde Anfang September in den USA wegen Vergewaltigungsvorwürfen festgenommen. Es lag nicht viel gegen ihn vor, und er kam nach einer Nacht im Gefängnis wieder frei. Trotzdem fielen die Aktien seines Unternehmens zwischenzeitlich um sieben Prozent auf ein 18-Monats-Tief. Und auch das ikonische erkennungsdienstliche Foto, das die Polizei von Minneapolis von ihm anfertigte, wird er so schnell nicht wieder los - ob die Anschuldigungen nun stimmen oder nicht.
Um dieser drückenden Verantwortung als Chairman und Aushängeschild in Personalunion zu entkommen, übergab Ma bereits 2014 das operative Tagesgeschäft an ein persönlich von ihm ausgebildetes Team von Managern. "Bei Alibaba ging es niemals nur um Jack Ma", schrieb der CEO seiner Belegschaft zum Abschied in einem Brief. Inzwischen lebe die Firma gut "von der Organisation und von der Kultur einer stetigen Entwicklung von Talenten". Auch das spricht für Mas Führungsstil. Er hat seinen Rückzug lange und sorgfältig vorbereitet.
Der "Beginn einer neuen Ära"?
Ma bezeichnet seinen Rücktritt übrigens nicht als das Ende, sondern als "Beginn einer Ära". Ab dem 10. September 2019 wird sein Nachfolger und enger Vertrauter Daniel Zhang dann statt ihm die großen Linien in der Firmenstrategie festlegen. Der 46-Jährige ist im Gegensatz zu Ma studierter Geschäftsmann. Unter ihm nahm Taobao, das Ebay-ähnliche E-Commerce-Zugpferd von Alibaba, erst richtig Fahrt auf. Auf Zhangs Kappe geht auch Alibabas "Singles Day", ein jährlich zum 11. November stattfindender Internet-Rabatt-Kaufrausch, bei dem 2017 ganze 25 Milliarden Dollar umgesetzt wurden. "Er verficht unsere Mission und Vision, nimmt Verantwortung mit Leidenschaft an, hat Mut zur Innovation und testet gerne kreative Geschäftsmodelle", preist Ma seinen Nachfolger.
Dennoch wird Zhang es wohl ähnlich schwer haben wie Tim Cook, der in den Fußstapfen von Apple-Visionär Steve Jobs farblos dastehen musste. Aber ganz verschwunden ist Ma für Alibaba ja nicht. Im Vorstand will er noch bis 2020 bleiben, um das nächste große Investoren-Treffen mitzugestalten. Und als Mentor will er junge Managementtalente im Unternehmen weiter persönlich fördern. Das bedeutet wohl auch, dass der Strom seiner inspirierenden Reden so schnell nicht abreißen und aus den Social-Media-Kanälen verschwinden wird. Mit einem großen Unterschied: Falls Ma dabei eines Tages über die Stränge schlagen sollte, wird das dann nicht auf den Konzern zurückfallen, den er mit seinem Namen groß gemacht hat.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.