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Politik

Sierens China: Mehr Vielfalt, mehr Freiräume

Frank Sieren
Frank Sieren
25. September 2019

Zum 70. Jubiläum der Staatsgründung der Volksrepublik China hätte die Regierung genug Gründe, sich zurückzulehnen und seiner Bevölkerung mehr Freiräume zu geben, meint Frank Sieren.

Bild: picture-alliance/dpa

Am 1. Oktober feiert die Volksrepublik ihr 70-jähriges Bestehen. Schon jetzt strahlt der Himmel blau über Peking - nicht nur, weil die Fabriken im Umland für die Feier geschlossen wurden, sondern auch, weil die Luft insgesamt deutlich besser geworden ist in den letzten Jahren. Das räumt selbst Greenpeace ein.

So wie die Franzosen in Europa bei solchen Anlässen möchte auch Peking den Geburtstag mit einer Parade feiern. Der Tiananmen-Platz und die Chang'an Straße wurden am Wochenende zum dritten Mal abgesperrt, um für eine der größten Militärparaden zu proben, die das Land je gesehen hat.

China hat tatsächlich viele Gründe, stolz zu sein: Als die Volksrepublik am 1. Oktober 1949 gegründet wurde, konnte sich fast niemand vorstellen, dass sich China so schnell entwickeln, ja sogar die Weltmacht USA herausfordern würde.

Einigermaßen stabil

Die Volksrepublik hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einem der ärmsten Länder der Welt zur größten Handelsnation, zu einem globalen Innovationstreiber und, kaufkraftbereinigt, zur stärksten Volkswirtschaft entwickelt. Auch das Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen ist in den vergangenen 70 Jahren dramatisch angestiegen. 1949 lag es umgerechnet bei gut sechs Euro. 2018 waren es rund 3600 Euro. Die allermeisten Chinesen haben heute viel mehr Spielräume, als sie noch vor 30 oder 40 Jahren zu träumen gewagt hätten. Deshalb ist das Land trotz der vielen Probleme, die es hat, einigermaßen stabil.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Dass die Regierung noch immer so viel Nervosität und Kontrollsucht an den Tag legt, wundert angesichts dieser Erfolgsgeschichte. "Je näher der Nationalfeiertag rückt, desto schwerer wird der Zugang zum Internet", beklagte selbst der Chefredakteur der Global Times, Hu Xijin, im chinesischen Social-Media-Netzwerk Weibo. Hu ist nun wirklich kein Dissident. Die "Global Times" ist staatlich.  Die Zeitung hat eine englischsprachige Ausgabe. Und damit die gut wird, muss er wissen, was die Ausländer denken.

"Dieses Land ist nicht fragil", erklärte Hu weiter. "Ich schlage vor, die Gesellschaft sollte mehr Zugang zum Internet außerhalb Chinas bekommen. Das käme der Stärke und Reife der öffentlichen Meinung in China, der wissenschaftlichen Forschung und der externen Kommunikation zugute und wäre von nationalem Interesse".

Nur ein Vorschlag

Tatsächlich toleriert Peking schon lange, dass die Bürger über VPN-Kanäle die Zensur umgehen und sich mit der Welt vernetzen. Das ist billig und kinderleicht. Anders wäre die Innovation des Landes wohl auch nicht möglich gewesen. So gesehen war Hus Kommentar keine allzu unerhörte Forderung. Trotzdem löschte er den Beitrag umgehend wieder und entschuldigte sich. Er habe keine "heiße Diskussion" entfachen, sondern bloß einen Vorschlag machen wollen. Immerhin: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Zugang zu Google & Co über die VPN-Kanäle nach den Feiertagen wieder normal funktioniert.

Immer vernetzt: Junge Frauen in ShanghaiBild: Getty Images/AFP/J. Eisele

Allerdings ist es nicht gut für China, dass solche Diskussionen noch immer kaum möglich sind. Dabei würde mehr Meinungsfreiheit der Stabilität nicht schaden. Im Gegenteil, es würde deutlicher, was man noch verbessern kann, aber auch, worauf man stolz ist. "Ein glückliches Leben zu führen ist das primäre Menschenrecht", heißt es in einem neuen Weißbuch mit dem Titel "70 Jahre Fortschritte bei den Menschenrechten in China", das am Sonntag zur Feier des Jubiläums veröffentlicht wurde. Zu einem glücklichen Leben gehört auch, dass man seine Meinungen an anderen öffentlich reiben kann. Das ist in China nicht unmöglich, aber der Spielraum könnte viel größer sein.

Phrasen aus einer anderen Welt

Vor allem für die junge Generation, die sich ansonsten selbstbewusst in der Welt bewegt, wirken die steifen Phrasen der Propagandamaschine wie aus einer anderen Welt. Sie passen so gar nicht mehr zum fortschrittlichen High-Tech-Image ihres Heimatlandes. Um sie zu gewinnen und so die Weichen für die Zukunft zu stellen, sollte die Partei nicht nur einen zeitgemäßeren Tonfall finden, sondern auch die Selbstgewissheit, dass eine freiere Zivilgesellschaft nicht zwangsläufig ihre Legitimation in Frage stellen muss.

Denn die Menschen in China heute wissen ganz gut, was sie erreicht haben, aber auch, wo die Schwächen ihres Landes liegen. Selbst die meisten Intellektuellen sind stolz auf ihr Land. Sie sehnen sich nicht nach einem Umsturz, sondern nur nach pluralem Fortschritt. Viele verzichten jedoch aus der Sorge anzuecken darauf, ihre Meinung klar zu formulieren. Damit geht eine Vielfalt verloren, die für die Entwicklung Chinas wichtig wäre.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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