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Politik

Nervosität vor dem Nationalen Volkskongress

Frank Sieren
20. Mai 2020

Beim Nationalen Volkskongress wird Peking seinen Sieg über das Corona-Virus feiern. Hinter den Kulissen muss sich die Regierung jedoch einige unangenehme Fragen stellen lassen, meint Frank Sieren.

Volkskongress in China
Blick in die Große Halle des Volkes während der Plenartagung: Was beschließt der NVK in diesem Jahr?Bild: Reuters/J. Lee

Die Symbolwirkung ist nicht zu unterschätzen: Mit fast zwei Monaten Verspätung tagt ab Freitag Chinas Nationaler Volkskongress (NVK) in der herausgeputzten Hauptstadt. Lange sah es so aus, als könnte das jährliche Treffen der rund 3000 Abgeordneten aus allen Provinzen wegen der Corona-Pandemie allenfalls online stattfinden. Dass das chinesische Scheinparlament in diesem schwierigen Jahr nun doch in Pekings Großer Halle des Volkes zusammenkommen kann, soll vor allem eines signalisieren: China hat die Krise im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gemeistert.

Ganz zur normalen Tagesordnung übergehen kann Peking jedoch trotzdem nicht. Noch immer gelten für die Hauptstadt strenge Quarantäneregeln. Ausländische Journalisten dürfen nicht einreisen. Mehr als ohnehin schon bestimmt Peking das Narrativ.

Noch weniger als sonst wird in diesem Jahr aus der Großen Halle des Volkes nach draußen dringenBild: Reuters/T. Peter

Die Regionalpolitiker werden Fragen stellen

Trotz aller nach außen gekehrter Siegesgewissheit wird die Regierung dieses Jahr jedoch einige schwierige Fragen zu beantworten haben, die die Regionalpolitiker mit nach Peking bringen. Sie wollen im Detail wissen, wie die Regierung eine zweite Infektionswelle verhindern will, und auch wie man solch eine Katastrophe in Zukunft verhindern kann. Sie haben nicht vergessen, dass der Versuch, den Ausbruch der Epidemie zu verschweigen, gründlich nach hinten losgegangen ist. Schließlich mussten sie am Ende in ihren Provinzen die Zeche dafür zahlen.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Neben Seuchenprävention und -bekämpfung wird es vor allem darum gehen, wie man wirtschaftlich wieder zur Normalität zurückkehren kann. Eigentlich wollte Peking dieses Jahr sein selbstgesetztes "Jahrhundertziel" erreichen: bescheidener Wohlstand für alle Chinesen. Nun hat Peking mit hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen. Der Konsum springt noch nicht so an wie gewünscht.

Wenn der Staat nichts unternimmt, drohen im schlimmsten Fall soziale Unruhen. Entsprechend groß werden die Spannungen während der Parlamentssitzung sein. Zwar darf in diesem Parlament nicht frei abgestimmt werden. Die Diskussionen hinter den Kulissen sind jedoch seit Jahren kontrovers und leidenschaftlich. Jede Region hat ihre eigenen Sorgen und Nöte. Die Abgeordneten versuchen so viel wie möglich für ihre Provinz herauszuholen. Und vielen ist klar, dass sie die derzeitigen Belastungen nicht aus eigener Kraft stemmen können.

Kein Hilfspaket, dass der ganzen Weltwirtschaft hilft

Selbst innerhalb der Regierung ist man sich offenbar nicht einig, was jetzt besser ist: mehr Geld in die Wirtschaft pumpen oder diese sich aus eigener Kraft regenerieren lassen? Derzeit beträgt das staatliche Konjunkturprogramm nach westlichen Berechnungen gerade mal vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das ist erstaunlich wenig. In der Weltfinanzkrise 2008/09 hat China noch zehn Prozent des BIPs investiert. Japan liegt bereits bei über 20 Prozent, die Amerikaner bei gut 13 Prozent und die Deutschen bei rund zehn Prozent.

Da ist in China also noch viel Luft nach oben. Dass Premier Li Keqiang während des Volkskongresses neben dem jährlichen Wachstumsziel auch einige größere Infrastrukturprojekte ankündigen wird, ist nicht unwahrscheinlich. Staatliche Baufirmen berichten bereits von gestiegener Nachfrage. Ein umfassendes Hilfspaket, das am Ende die ganze Weltwirtschaft mit aus der Krise zieht, wird es aber nicht geben. Peking will die Verschuldung unter allen Umständen unter Kontrolle behalten. Die ist mit rund 250 Prozent des BIP schon jetzt sehr hoch. Aber immerhin schuldet China anderen Ländern fast nichts - die Auslandsverschuldung ist gering. Diese Unabhängigkeit möchte Peking gerne bewahren.

Auf stetigem Weg zurück zur Normalität

Immerhin: Die chinesischen Zahlen wecken die Hoffnung, dass die Volksrepublik sich auf dem langsamen, aber stetigen Weg zu Normalität befindet. Im ersten Quartal musste mit minus 6,7 Prozent der schlimmste Einbruch der Wirtschaft seit Maos Tod hingenommen werden. Der überraschende Anstieg von Chinas Exporten im April von 3,5 Prozent ist ein gutes Zeichen. Der Handelsbilanzüberschuss mit rund 45 Milliarden ebenfalls. Die Industrieproduktion ist bereits auf Vorjahresniveau. Westliche Analysten halten es sogar für möglich, dass China das Jahr mit einem positiven Wachstum zwischen einem und zwei Prozent abschließen kann.

Premierminister Li Keqiang vor dem Nationalen Volkskongress im März 2016Bild: Getty Images/AFP/G. Baker

Das ist auch gut für die deutsche Wirtschaft. Bisher haben Europa und Deutschland mehr in die USA exportiert als nach China. Das könnte sich in diesem Krisenjahr erstmals ändern: Während Europa angesichts der Corona-Pandemie zu Recht darüber nachdenkt, wie man die wirtschaftliche Abhängigkeit von China wieder verringern kann, könnte die Corona-Krise zunächst einmal zu einer noch höheren Abhängigkeit führen - ganz schlicht aus Mangel an Alternativen.

Lebt der Handelsstreit mit den USA wieder auf?

Das alles ist natürlich nur der Fall, wenn China eine zweite Viruswelle verhindern kann. Derzeit wird die Stadt Jilin im Nordosten des Landes aufgrund neuer Virus-Cluster weitgehend abgeriegelt. Und das, obwohl die Zahl der Infizierten mit 125 Personen im Vergleich zu europäischen und amerikanischen Städten gering ist. In Wuhan sorgt eine Handvoll Neuinfektionen sogar dafür, dass alle elf Millionen Bewohner bis zum 24. Mai getestet werden sollen.

Auch hier zählt vor allem die Symbolwirkung: Mit den scharfen Maßnahmen will Peking vor dem Nationalen Volkskongress noch einmal seine Entschlossenheit demonstrieren. Und es soll gezeigt werden, dass China nach wie vor die Mittel hat, das Virus umfassend einzudämmen - vor allem auch im Gegensatz zu den USA. Denn eines eint die Partei und alle Parlamentarier in diesem Jahr: der Nationalismus, der als Reaktion auf Trumps Anti-China-Parolen mehr denn je aufblüht. Angesichts dieser Stimmung ist es fraglich, ob die Einigung im Handelsstreit vom Januar den Sommer übersteht.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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