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Politik

Sierens China: Pragmatische Inselbewohner

Frank Sieren
28. November 2018

Die Demokratische Fortschrittspartei von Präsidentin Tsai Ing-wen hat in Taiwan eine Wahlschlappe erlitten. Das zeigt, dass die China-Frage weder die größte noch einzige Sorge der Taiwanesen ist, meint Frank Sieren.

Taiwan Kommunalwahlen in Taipei
Bild: picture-alliance/AP Photo

Was für ein Reizthema die Beziehung zwischen Taiwan und Festlandchina noch immer ist, zeigte Mitte des Monats ein kleiner Skandal bei den "Golden Horse Awards", dem jährlich in Taiwans Hauptstadt Taipeh stattfindenden chinesischen Gegenstück zur Oscar-Verleihung. In ihrer Dankesrede verkündete dort eine junge Dokumentarfilmerin, ihr größter Wunsch sei, dass Taiwan eines Tages als "unabhängig" anerkannt werde. Ang Lee, Oscarpreisträger und Präsident des Golden-Horse-Komitees, saß mit eingefrorenem Lächeln da. Das peinliche Thema hätte er gerne umschifft. Doch da war es schon zu spät: Die Übertragung der Verleihung wurde in China unterbrochen.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Auf der Aftershow-Party blieben die Stühle leer. Mehrere Teilnehmer vom Festland waren frühzeitig abgereist. Der Shitstorm auf chinesischen Social-Media-Plattformen ließ nicht lange auf sich warten. Am Ende sah sich sogar Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen genötigt, einen Kommentar abzugeben: "Ich bin stolz auf die gestrigen Golden Horse Awards, die die Unterschiede zwischen Taiwan und Festlandchina gezeigt haben. Wegen unserer Freiheit und Diversität ist künstlerisches Schaffen an diesem Ort frei."

Eiertanz und Drahtseilakt

Für taiwanesische Politiker sind öffentliche Stellungnahmen zum großen Nachbarn oft Eiertanz und Drahtseilakt zugleich. Seit Gründung der Volksrepublik 1949 betrachtet Peking Taiwan als abtrünnige Provinz ohne Recht auf zwischenstaatliche Beziehungen. Tsai Ing-wen, die 2016 mit einem Erdrutschsieg an die Macht kam, hat die Distanz zu China  wieder vergrößert. Obwohl Taiwan wirtschaftlich vom Festland abhängt und sie selbst nicht zu den Hardlinern ihrer Partei zählt, ging sie auf Distanz zu China und weigerte sich, eine abgeschwächte Form des von Peking proklamierten Ein-China-Prinzips zu akzeptieren. Peking brach daraufhin den Kontakt ab und versuchte, die Insel international zu isolieren. Unternehmen wie Lufthansa und Zara wurden gerügt, die Länderkategorie "Taiwan" aufzugeben und stattdessen den Begriff "VR China" oder "Taiwan, China" zu verwenden. Außerdem gelang es Peking, fünf kleinere Staaten, die noch zu den wenigen gehörten, die Taiwan diplomatisch anerkannten, auf seine Seite zu ziehen.

Kommunalwahlen: Schlappe für die Präsidentin (r.)Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Haoan

Die frostigen Beziehungen könnten jedoch bald wieder auftauen. Bei den Kommunalwahlen in Taiwan hat Tsai am Wochenende eine Schlappe eingefahren und als Konsequenz ihren Rückzug als Chefin der Demokratischen Fortschrittspartei (DDP) angekündigt – und das, obwohl sie selbst gar nicht auf dem Wahlzettel stand. Die Abstimmung ist jedoch vergleichbar mit den Midterms in den USA. Vordergründig geht es um die Besetzung von Bürgermeisterposten, Bezirksräten und Ämtern auf Lokalebene. Gleichzeitig dienen die Wahlen aber vor allem als Indikator für die politische Stimmung im Land und als Bewertung der Errungenschaften der amtierenden Regierung.

Pragmatische Wähler

Von insgesamt 22 Städten und Regionen, in denen abgestimmt wurde, konnte Tsais DPP nur sechs für sich gewinnen. Bei der vorangegangenen Wahl hatte sie noch 13 Siege verbuchen können. Die Oppositionspartei Kuomintang setzte sich dagegen in 15 Städten und Regionen durch. Besonders schmerzhaft: der Verlust der Städte Kaohsiung und Taichung, die über Jahrzehnte als sichere DDP-Hochburgen galten. "Die Öffentlichkeit hat ihre Meinung gesagt. Wir werden eine gründliche Überprüfung durchführen", erklärte Tsai, die trotzdem vorerst als Präsidentin des Landes im Amt bleiben will.

Die Gründe für Tsais Wahlschlappe sind vielfältig. Wachsende Arbeitslosigkeit, stagnierende Löhne, Rentenkürzungen und ein Steuersystem, von dem vor allem Reiche profitieren, haben einen großen Anteil an der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Die China-Frage ist nicht das größte Problem der Bürger. Ohne Zweifel: Sie sind stolz auf ihr Land. Sie lieben ihre Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat.

Nein zu China: Demonstration für Taiwans Unabhängigkeit am 20. Oktober 2018Bild: Getty Images/AFP/S. Yeh

Besonders die Jüngeren pochen auf ihre Identität als Taiwanesen. Am 20. Oktober demonstrierten Zehntausende in Taipeh für eine formale Unabhängigkeit von der Volksrepublik. Die Mehrheit aber, das hat die Wahl gezeigt, sieht die Sache vor allem pragmatisch. Stabilität, Frieden und Wohlstand, der nicht zuletzt auf dem wirtschaftlichen Austausch mit dem Festland basiert, sind ihnen wichtiger. Das zeigte sich auch an einem Referendum, wonach die Athleten des Landes bei Olympischen Spielen künftig unter dem Namen Taiwan antreten sollen und nicht mehr unter der Bezeichnung Chinese Taipeh, die seit 1984 verwendet wird. Der Vorschlag wurde abgelehnt.

Enttäuschte Hoffnungen

Die Taiwanesen wollen offensichtlich lieber den Status quo bewahren, als seine Verschlechterung riskieren. Der schärfere Tonfall unter Tsai hatte viele Menschen im Land verunsichert, nicht zuletzt durch ihre neue Nähe zu Trump. Dieser nutzte den US-amerikanischen Status als Taiwans Schutzmacht vor allem, um Peking vor den Kopf zu stoßen. Schon kurz nach seinem Wahlsieg Ende 2016 hatte Trump mit Tsai telefoniert und sie in einem Tweet als "president of Taiwan" bezeichnet - ein Bruch mit der bisherigen diplomatischen Linie. In Tsais Amtszeit wurde die Taiwan-Straße wieder gefährlicher. China hielt mehrfach Militärübungen vor der Küste ab. Auch die USA schickten Kriegsschiffe durch die Gewässer, was Peking mit "großer Besorgnis" zur Kenntnis nahm. Diese angespannte Situation dürfte Tsais Partei ebenfalls Stimmen gekostet haben.

Die Hoffnung, die Beziehungen zu den USA könnten sich unter Trump stark verbessern, wurden gleichfalls enttäuscht. Trump hatte zwar - gut getimed während des Nationalen Volkskongresses in Peking - einen sogenannten "Taiwan Travel Act" unterzeichnet, der offizielle Kontakte auf Regierungsebene zwischen den USA und Taiwan fördern soll. Allerdings macht seine impulsive Politik auf viele Taiwanesen den Eindruck, dass er Taiwan vor allem als politisches Druckmittel einsetzt, die Inselbewohner die Konsequenzen aber selbst ausbaden lässt. Jüngstes Indiz: Strafzölle für Stahl, die eigentlich gegen China gerichtet sind, treffen nun vor allem auch Taiwan.

Großer Gegner: Der chinesische Präsident Xi Jinping bei einem Militärmanöver im Südchinesischen MeerBild: picture-alliance/AP Photo/Xinhua/L. Gang

Peking begrüßt das Wiedererstarken der Oppositionspartei KMT. Bereits in ihrer letzten Regierungsperiode unter Ma Ying-jeou zwischen 2008 und 2016 propagierte die KMT eine wirtschaftsfreundliche Politik und die Wiederannäherung an China, ohne jedoch Taiwans Demokratie dabei aufs Spiel zu setzen. Tatsächlich war der Spielraum der Taiwanesen auf der internationalen Bühne damals größer als jetzt unter Tsai. Ihre DDP muss sich für die Nationalwahlen, die 2020 stattfinden, nun eine neue Strategie überlegen.

Innerhalb der Partei gibt es auch Hardliner, die Tsais Kurs gegenüber China für zu nachgiebig hielten. Sie könnten gestärkt aus der Wahl hervorgehen und die Forderung nach Unabhängigkeit von China zu einer Säule ihres Wahlprogramms machen. Eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans gilt für Peking als rote Linie, die man "niemals akzeptieren" könne. Bisher hat keine taiwanesische Regierungspartei die formale Unabhängigkeit offiziell gefordert. Die Pragmatiker behielten die Oberhand. Momentan sieht es so aus, als ob das auch weiterhin so bleibt.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.

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