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Politik

Revolutionärer Funke

Frank Sieren
10. Oktober 2019

In Hongkong mit immer härteren Maßnahmen durchzugreifen, hilft allenfalls kurzfristig. Peking unterschätzt, dass viele junge Hongkonger gerade ihr persönliches Woodstock erleben, meint Frank Sieren.

China Hongkong Proteste mit Smartphones
Seit das Vermummungsverbot gilt, werden bewusst noch mehr Masken bei den Protesten getragenBild: AFP/P. Fong

Seit dem Zweiten Weltkrieg habe die Stadt nicht mehr so viel Zerstörung erlebt, erklärte Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam am Dienstag (8.10.) auf einer Pressekonferenz. Ihren eigenen Anteil an der Eskalation verschweigt sie. Obwohl es in der letzten Septemberwoche ein Bürgerforum zwischen ihr und 30 per Los ausgewählten Bürgern gegeben hat, kann man nicht sagen, dass bereits ein echter Dialog zwischen den Bürgern und der Lokalregierung stattgefunden hätte. Vor allem wenn man es vergleicht mit dem, was der französische Präsident Emmanuel Macron in einer ähnlichen Lage angesichts der Gelbwestenproteste unternommen hat.

Ein intensiver Dialog ist jedoch unerlässlich, um die Lage zu entspannen. Dass Lams über Nacht erlassenes Vermummungsverbot - ein fast 100 Jahre altes, koloniales Notstandsrecht - weiter Öl ins Feuer gießt, war klar. Vielleicht hat sie das sogar einkalkuliert, um strenger durchgreifen zu können. Die Folgen sind in der hochmodernen Wirtschaftsmetropole nun überall sichtbar: Die Stadt ist stellenweise lahmgelegt. Barrikaden und chinesische Geschäfte brennen. Große Teile der U-Bahn wurden vorübergehend geschlossen. Sogar Züge nach Festland-China stehen mittlerweile still, nachdem Randalierer die Scheiben eingeschlagen haben.

Bisher galten Regenschirme als Merkmal der Demonstranten in HongkongBild: picture-alliance/AP Photo/V. Thian

Medien tragen zur Eskalation bei

Die Medien, und das haben Westliche und Chinesische mittlerweile gemein, konzentrieren sich vor allem auf die Gewalt und tragen dadurch ihren Teil zur Eskalation bei. Die Chinesischen, indem sie die Demonstranten als Terroristen brandmarken und ihnen Separatismus unterstellen, obwohl das in den fünf Forderungen der protestierenden Mehrheit noch immer nicht vorkommt. Die westlichen Medien inszenieren aus den Protesten eine Art Actionfilm, innerhalb dessen die gewalttätigen Demonstranten der ersten Reihe zu Guerilla-Kämpfern für die Freiheit hochstilisiert werden. Hongkong wird bei ihnen zum letzten Dorf der Unbeugsamen. Asterix lässt grüßen.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Von den Chaoten im Rampenlicht abgesehen sind die Demonstranten aber nach wie vor allem sympathische, eher durchschnittliche junge Leute, die friedlich protestieren. Und deren Anliegen angesichts einer Angst vor Pekings Griff nach Hongkong und tiefgreifenden sozialen Problemen durchaus berechtigt sind. Für sie sind die Demos das Erweckungserlebnis ihrer Generation. Sie, die so lange in einer von Klassenunterschieden geprägten Stadt um Oberwasser kämpften, erleben zum ersten Mal so etwas wie Solidarität. Sie erleben Macht. Sie werden sichtbar. Sie treffen sich in Shopping Malls, singen gemeinsam Protestlieder, waschen einander das Tränengas aus den Augen. Sie fühlen sich plötzlich ihren Nachbarn, ja der ganzen Menschheit verpflichtet. "Revolution unserer Zeit" lautet dann auch einer ihrer beliebtesten Slogans. Das Gefühl: Larger than life.

Eine Bewegung, die sich in Echtzeit romantisiert

Die Hongkonger Proteste sind eine Bewegung, die sich selbst in Echtzeit romantisiert. Je größer der Druck von oben, umso mehr fühlen sie sich als Schicksalsgemeinschaft. Je weniger kompromissbereit sich die Regierung zeigt, umso mehr werden die "Frontliner", die vorne an den Barrikaden kompromisslos draufhauen, mit Ehrfurcht behandelt. Ein gefährlicher Kreislauf, der durch das Vermummungsverbot noch beschleunigt wurde.

Die Ursachen liegen in der Geschichte der Stadt: Hongkong wurde aufgebaut von Unternehmern, die in den 1950er-Jahren vor Mao flüchten mussten, weil er sie als Kapitalisten umbringen oder zumindest einsperren wollte. Als die Kronkolonie 1997 an China zurückgegeben wurde, fühlten viele, dass man ihnen eine Identität aufzwingt, die nicht mehr so recht passen wollte. Chinesisch ja, aber eben doch auch anders. Ihre Kinder und Enkel sind deshalb viel politisierter aufgewachsen als ihre Altersgenossen auf dem Festland. Jedes Jahr gedenken sie mit ihren Eltern im Victoria-Park mit Kerzen den Opfern von Tiananmen. Undenkbar im Mutterland. Dass sich viele junge Demonstranten nun im Auge des Sturms selbst wie Märtyrer fühlen, ist da nur folgerichtig. Sie haben das Gefühl auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Die wahren chinesischen Patrioten?

Viele der jungen Hongkonger sehen sich sogar als die wahren chinesischen Patrioten, die hoffen, China als großes Ganzes mit mehr Freiheit für die Zivilgesellschaft und mehr Rechtsstaatlichkeit segnen zu können. Auf viel Verständnis treffen sie damit jedoch nicht. Im Gegenteil: Mit ihrem Idealismus können die pragmatischen, flexiblen Festlandchinesen nicht viel anfangen. Bei ihnen überwiegt der Stolz auf das, was sie trotz aller Widerstände erreicht haben. Natürlich kritisieren auch sie Peking. Um jedoch auf die Straße zu gehen, geht es ihnen einstweilen zu gut. Die Hongkonger, die ohnehin schon privilegiert sind, wollen zu viel auf einmal, finden viele. Sie seien undankbar, leichtsinnig und längst dabei, den Ast abzusägen, auf dem sie selbst sitzen.

Zumindest ist richtig, dass Hongkong seine Position nur verteidigen kann, wenn es im Vergleich zu chinesischen Städten einzigartig und mindestens ebenso stark ist. Das Dilemma: Die Verteidigung der Stärken Hongkongs führt gleichzeitig dazu, dass es wirtschaftlich schwächer wird und damit anfälliger auf Druck von außen.

Hongkongs Regierungschefin Carrie LamBild: AFP/M. Rasfan

Hongkong braucht die Suche nach Kompromissen

Der Tourismus ist eingebrochen, Geschäfte müssen schließen oder Mitarbeiter entlassen. Die Konjunkturdaten für das dritte Quartal werden schlecht ausfallen. Doch das scheint vielen Demonstranten egal zu sein. Denn sie haben zum ersten Mal das Gefühl, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen - nach Jahren der Ohnmacht und der sozialen Ungleichheit, die ihnen die Stadtregierung und ihre Eliten eingebrockt haben. Gegen diesen Sturm und Drang hilft kein Antivermummungsgesetz, im Gegenteil. Jetzt ist die Maske das Symbol des Widerstandes: Jetzt erst recht!

Es wäre nun wichtig für alle, die Situation abkühlen zu lassen, sich an einen Tisch zu setzen und nach Kompromissen zu suchen. Es ist jedoch derzeit weder bei Carrie Lam noch der Protestbewegung klar, ob sie das wirklich wollen.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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