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Politik

Stillgelegte Metropolen

Frank Sieren
29. Januar 2020

Trotz anfänglicher Versäumnisse handelt Peking in der Coronakrise weit effizienter als bei SARS 2003. Doch einige Herausforderungen sind noch zu stemmen, damit China diese Bewährungsprobe besteht, meint Frank Sieren.

BG Alltag in der abgeriegelten Stadt Wuhan
Bild: Getty Images

Das Coronavirus hat auch Chinas Elite fest im Griff. Staats-und Parteichef Xi Jinping spricht von einer "ernsten Herausforderung". Premier Li Keqiang ist nach Wuhan gereist, um sich an der Front mit Schutzmaske ein Bild vom Ausmaß der Epidemie zu machen. Im Staatsfernsehen wurde sogar ein Krisentreffen des Ständigen Ausschusses des Politbüros übertragen - an chinesischischen Neujahrstag, dem höchsten Feiertag in China. Ein seltener Blick hinter die Kulissen des ansonsten so verschlossenen Pekinger Machtzirkels. Die Botschaft ist klar: Wir werden alles Nötige tun, um das Virus, das sich von China über die Welt ausbreitet, so schnell wie möglich einzudämmen! Gegenüber seinen Genossen wurde Xi mehr als deutlich: Wer Krankheitsfälle vertusche, werde "für die Ewigkeit an den Pranger der Schande gestellt".

Pekings Maßnahmen sind tatsächlich so beispiellos gigantisch, wie sie nur ein autoritärer Ein-Parteien-Staat so schnell durchsetzen kann: Rund 56 Millionen Menschen stehen in ihren Städten unter Quarantäne. Der Flug-, Bahn- und Fernbus-Verkehr wurde in mindestens 14 Städten ausgesetzt. Das erstaunliche hierbei: Es gibt keine Demonstrationen oder gar Aufstände in den betroffenen Regionen. Das Verständnis in der Bevölkerung für die drakonischen Maßnahmen ist relativ groß.

Premier Li Keqiang am Montag in WuhanBild: picture-alliance/AP Photo/Chinatopix

Großveranstaltungen reihenweise abgesagt

Massenereignisse zum Frühlingsfest und lang erwartete Sportveranstaltungen wurden abgesagt, die große Mauer geschlossen. Bis Anfang Februar soll in Wuhan ein 25.000 Quadratmeter großes Krankenhaus mit einer Kapazität von 2300 Betten aus dem Boden gestampft werden. Der am stärksten betroffenen Provinz Hubei werden Sofortmaßnahmen im Wert von mehr als 100 Millionen Euro umgesetzt. Hundertschaften von Ärzten und medizinischem Personal wurden bereits dorthin entsandt. Die Frühlingsferien werden verlängert, die Schulen bleiben länger zu. In manchen Städten auch die die Firmen.

Hier entsteht das neue Klinikum, das schon in wenigen Wochen Corona-Patienten in Wuhan behandeln können sollBild: imago images/Xinhua

Beim Ausbruch des SARS-Erregers 2002/2003 sah das noch ganz anders aus: Damals war das Ausmaß der Epidemie monatelang vertuscht und heruntergespielt worden. Am Ende starben 800 Menschen. Nun informiert Peking fast stündlich über die Zahl der Erkrankungen und der Todesopfer. Sogar der Bau des neuen Krankenhauses wird live im Internet übertragen.

Und selbst die Social-Media-Kanäle scheinen momentan so unzensiert wie seit Jahren nicht. Dort ist das Virus Thema Nummer eins. Videos von überforderten Krankenschwestern kursieren hier ebenso wie empörte Memes, in denen die bombastische Neujahrs-TV-Gala von vergangener Woche mit dauergestressten Ärzten gegengeschnitten werden, die statt zu feiern, in kargen Hinterzimmern Instant-Nudeln essen. Derzeit ist sie möglich, diese Form der Kritik am Staat. Den Handel mit Wildtieren hat Peking nun endlich verboten. Das hätte schon längst passieren müssen. Auf den Verzehr von Fledermäuse oder Schlangen kann man problemlos verzichten

Fledermaussuppe als Auslöser?

Das Epizentrum der Epidemie soll der Huanan-Markt in der Innenstadt von Wuhan gewesen sein, wo auch exotische Wildtiere verkauft wurden. Das mittlerweile berühmte Video einer chinesischen Frau, die eine Suppe isst, in der eine Fledermaus schwimmt, stammt allerdings nicht von diesem Markt, nicht aus Wuhan, ja nicht einmal aus China, sondern aus Palau, einem Archipel im westlichen Pazifik. Und: Die genaue Herkunft des Virus ist, anders als oft behauptet, noch immer unbekannt. Es gilt nur als wahrscheinlich, dass es etwas vergleichbares wie eine Fledermaussuppe war, die in China weiterhin als Delikatesse gilt.

In diesem inzwischen geschlossenen Markt in Wuhan sollen die infizierten Tiere verkauft worden seinBild: picture-alliance/Kyodo

Normalerweise werden solche Debatten in den chinesischen Sozialen Medien umgehend gelöscht, auch um Panikmache zu vermeiden. Momentan lässt die Regierung jedoch die Zügel locker. Peking weiß, dass es jetzt vor allem um Schadensbegrenzung geht. Würden die Behörden nun verstärkt zensieren, könnte die allgemeine Verunsicherung der Bevölkerung schnell in Wut umschlagen. Denn den offiziellen Zahlen vertrauen die Chinesen in so einer Krise dann doch nur begrenzt. In der Vergangenheit wurde zu oft vertuscht und beschönigt - vom Milchpulverskandal 2008 bis zum Zugunglück von Wenzhou 2011.

Und dass es auch in Wuhan zunächst schwerwiegende Versäumnisse gab, lässt sich nicht leugnen. Man habe zu lange gebraucht, um die Öffentlichkeit zu informieren, gab Wuhans Bürgermeister Zhou Xianwang am Montag in einem Interview beim staatlichen Fernsehsender CCTV zu und bot sogar seinen Rücktritt an. Eine moderne Form der maoistischen Selbstkritik. Und dann doch noch ein mutiger Seitenhieb nach Peking: Als Lokalpolitiker, so erklärte Zhou, hätte er gar nicht die Befugnis gehabt, wichtige Informationen ohne Freigabe von oben sofort zu veröffentlichen.

Die Krise schafft Zusammenhalt - vielleicht sogar Fortschritt?

Auch Chinas Tech-Unternehmen engagieren sich gegen die Krankheit: WeChat hat eine neue Funktion angekündigt, bei der man Verdachtsfälle und medizinische Mängel melden kann. Die E-Commerce-Plattform Taobao will gegen Anbieter gefälschter Atemschutzmasken vorgehen, die aus der Krise Geld schlagen. Und die Streaming-Plattform Douyin, die in Europa unter dem Namen Tiktok bekannt ist, zeigt Frühlingsfestfilme, die aufgrund geschlossener Kinosäle dort nicht aufgeführt werden können. Am Ende des Tages schafft die Krise natürlich auch Zusammenhalt. Die meisten Chinesen finden nicht, dass die Regierung mit ihren jüngsten Maßnahmen übers Ziel hinausschießt. Und das, obwohl Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Ausländern bislang nicht dazu rät, das Land zu verlassen oder gar eine "gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite" ausgerufen hat.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Noch ist unklar, wie sich die Epidemie weiter entwickeln wird. Noch liegt die Sterblichkeitsrate deutlich unter der von SARS und anderen Atemwegsinfekten. Zum Vergleich: In Deutschland sterben bei heftigen Grippewellen pro Jahr 20.000 Menschen an deren Folgen. Weltweit sind es zwischen 200.000 und 650.000. Eines ist jedoch klar: Für Peking steht Stabilität momentan an erster Stelle. Da die Chinesen ihre Regierung nicht selbst wählen können, muss Peking schnell liefern, wenn es Proteste oder gar Aufstände vermeiden will.

Die wirtschaftlichen Folgen der Epidemie sind dabei noch nicht einmal abzusehen. Der Tourismus ist bereits eingebrochen. Auch einige Firmen von Weltrang wie Renault aus Frankreich, General Motors aus den USA oder Honda aus Japan produzieren in der nun stillgelegten Metropole Wuhan. Manche Medien prognostizieren bereits, dass das chinesische Wirtschaftswachstum durch den Ausbruch des Virus um bis zu einem Prozent niedriger ausfallen könnte. So war das auch bei SARS. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch Spekulation. Gut möglich, dass das Virus schon bald eingedämmt sein wird. Und wenn sich danach eine Debatte über eine Verbesserung des Gesundheitssystems, der Tierhaltung oder sogar der Zensur entfaltet, hätte die Krise China sogar noch weitergebracht.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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