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PolitikAsien

Sierens China: Vergiftete Stimmung

Frank Sieren
16. Juli 2020

Das größte Problem des neuen Sicherheitsgesetzes für Hongkong ist der fast willkürliche Spielraum, mit dem Peking nun mit drakonischen Strafen Exempel statuieren kann, meint Frank Sieren.

Hongkong Proteste | Polizei, Verhaftungen
Bild: picture-alliance/Zuma/W. Siawillie Siau

Die Art und Weise, mit der das neue Sicherheitsgesetz für Hongkong eingeführt wurde, sagt klar: Liebe Bürger der Stadt, das geht euch gar nichts an. Es geht um die nationale Sicherheit Chinas. Das mag rechtlich noch nachvollziehbar sein: Es heißt ja "Ein Land" in der Formel "Ein Land, zwei Systeme" und die Ein-China-Politik wird von den meisten Staaten weltweit anerkannt. Dennoch sollte Peking sich nicht wundern, dass dies als ein Affront in Hongkong und der westlichen Welt angekommen ist. Die als "Basic-Law" bekannte Mini-Verfassung der Stadt erfordert zwar ausdrücklich die Einführung eines nationalen Sicherheitsgesetzes, betont aber auch, dass Hongkong dies "alleine" regeln müsse. Das die Hongkonger dies in den vergangenen Jahrzehnten nicht hinbekommen haben, ist noch kein Grund, sie nun einfach zu übergehen. Nach den monatelangen Protesten und dem Erdrutschsieg der pro-demokratischen Kräfte bei den Kommunalwahlen im vergangenen November schon gar nicht. Viele Menschen in Hongkong fühlen sich überrumpelt.

Dem Westen hat Peking nun eine offene Flanke geliefert, deren Spielraum nicht nur von Washington sofort genutzt wird. US-Präsident Donald Trump hat Hongkong seinen Sonderstatus als US-Partner aberkannt und Sanktionen gegen chinesische Regierungsvertreter verfügt. Das passt gut in Trumps Wahlkampf. Die Briten haben für die Hongkonger eine Immobiliensteuer abgeschafft, um ihrer gebeutelten Wirtschaft einen Immobilienboom zu bescheren. Einige westliche Länder haben zudem angekündigt, Hongkonger Bürgern Asyl zu gewähren, sollten sie aufgrund des Gesetzes politisch verfolgt werden.

Keine Rechtssicherheit in Festlandchina

Das größte Problem des Gesetzes liegt auf der Hand: Um gegen Aktivitäten vorzugehen, die laut Artikel 22 als "subversiv, separatistisch oder terroristisch" eingestuft werden, dürfen Pekinger Kräfte unabhängig von der Hongkonger Polizei ermitteln und festnehmen, Durchsuchungen ohne Haftbefehl durchführen, Vermögen einfrieren und Online-Kommunikation abfangen. Wer in Hongkong für "oppositionelle Tätigkeiten" festgenommen wird, kann theoretisch sogar vor ein Gericht in Festlandchina kommen. Grundsätzlich wäre dagegen nichts einzuwenden. Auch in Deutschland gibt es Landesgerichte und Bundesgerichte. Und das Bundesgericht kann das Urteil eines Landesgerichtes überstimmen. Doch im Unterschied zu Deutschlands Bundes- und Landesebene ist das Niveau der Rechtsstaatlichkeit in China und in Hongkong noch sehr unterschiedlich entwickelt. In China redet die Partei viel mehr mit. 

Journalisten hinter einer Abgrenzung beobachten die Eröffnung eines temporären Sicherheitsbüros in HongkongBild: Reuters/T. Siu

Es ist eigentlich auch nichts dagegen einzuwenden, den Versuch der Abspaltung von Teilen des Landes unter Strafe zu stellen. Auch in Deutschland sind politische Aktionen verfassungswidrig, die darauf abzielen, Teile der Bundesrepublik unabhängig werden zu lassen. Das hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt im Januar 2017 deutlich gemacht, als es eine Verfassungsbeschwerde über eine bayerische Volksabstimmung zur Unabhängigkeit mit nur drei Sätzen abschmetterte. Aus durchaus ähnlichen Gründen sind nun Slogans wie "Befreie Hongkong! Revolution unserer Zeit!"  oder "Hongkonger baut euch eine Nation" sowie Bücher, die die Abspaltung Hongkongs vom Festland fordern, verboten. Auch die Verwendung von Flaggen, die die Unabhängigkeit Tibets, Taiwans und Ost-Turkestans befürworten, stehen nun unter Strafe. "Warum soll dieses international durchaus übliche Recht nicht für den chinesischen Staat gelten - zumal es dem 'Ein Land, zwei Systeme'-Vertrag mit London ausdrücklich nicht widerspricht?", fragen selbst westliche Analysten. Und wieder lautet die einfache Antwort: Die fehlende Rechtssicherheit in Festlandchina.

Keine Aussicht auf faire Prozesse

Mancher mag auch mit gutem Grund argumentieren, dass ähnlich wie in Hongkong auch bei uns im Strafgesetzbuch festgeschrieben ist, dass im Ausland begangene Taten wie Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaates, Gefährdung der äußeren Sicherheit oder Landesverrat innerhalb Deutschlands bestraft werden können, und zwar wie in Hongkong "unabhängig vom Recht des Tatortes". Von dem amerikanischen Sicherheitsgesetz, das nach 9/11 installiert wurde und das die Exekution von Osama Bin Laden ohne Prozess auf fremdem Territorium rechtlich möglich machte, wollen wir gar nicht reden.

Wie immer man argumentiert, es bleibt dieser große Unterschied zu anderen Ländern, den Peking gern verschweigt: In Deutschland, in Hongkong und mit einigen Abstrichen (Guantanamo) auch in den USA ist die Wahrscheinlichkeit eines nach westlichen Maßstäben fairen Prozesses hoch. Auf dem Festland in China eben nicht.

DW-Kolumnist Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Insofern ist es zwar gut und richtig, dass das neue Sicherheitsgesetz das Hongkonger Basic Law ausdrücklich achtet. Werden die Urteile jedoch nach Pekinger Parteimaßstäben gefällt, bringt das den Beschuldigten wenig.

Wie interpretiert China das Gesetz?

Inhaltlich sichert der Artikel 4 des Sicherheitsgesetzes die Einhaltung der Menschenrechte zu, ebenso die bisherige Rede-, Presse-, Veröffentlichungs-, Vereinigungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Und es sieht gegenwärtig so aus, als ob die Medien weiterhin kritisch berichten dürfen. Es gibt derzeit kein Thema, über das im Ausland berichtet wird, in Hongkonger Zeitungen wie der führenden South China Morning Post aber nichts stehen darf.

Doch was die Umsetzung betrifft, sind viele Fragen offen, eben weil Peking nun Recht sprechen kann. Werden zum Beispiel Demonstrationen zugelassen, in denen die Menschen mehr Mitbestimmung oder einen Ausbau des Sozialstaates fordern, aber nicht die Unabhängigkeit von der Volksrepublik? Nach den Worten dieses Gesetzes müsste das möglich sein, selbst wenn Millionen auf die Straße gehen. Doch sieht Peking das auch so?

Eine entscheidende Frage wird auch sein, wie drakonisch die Strafen ausfallen, die gegen Hongkonger verhängt werden, wenn sie nach Ansicht Pekings gegen dieses Gesetz verstoßen haben. 

Seit das Gesetz in Kraft getreten ist, sind bereits hunderte Menschen wegen illegaler Versammlung vorübergehend festgenommen worden, jedoch wurden nur rund zehn wegen Verstößen gegen das neue Gesetz angeklagt. Einen Gerichtstermin gibt es bislang nicht.

Noch kein Exempel statuiert

In vielen öffentlichen Einrichtungen Hongkongs ist man jedoch bereits vorsichtig: Schüler und Studenten werden angehalten, in der Unterrichtszeit keinen politischen Aktivitäten mehr nachzugehen. Offenbar soll auch das Angebot öffentlicher Bibliotheken und Buchhandlungen auf "subversive" Inhalte hin untersucht werden. Wie weit wird das gehen?

Folgt man dem Gesetz, kann die neu eingerichtete "nationale Sicherheitsbehörde", die von dem Hardliner Zheng Yanxiong geleitet wird, eigentlich nicht  jedem, der  sich kritisch über China äußert, vorwerfen, die Stabilität des Landes zu gefährden. Die Frage ist nur, sieht Peking das auch so? Wo beginnt die Subversion aus Sicht der Kommunistischen Partei?

Juraprofessor Benny TaiBild: picture-alliance/dpa/Jerome Favre

Noch wurde mit dem Gesetz an keinem pro-demokratischen Protestführer ein Exempel statuiert. Mancher prominente Aktivist, wie der 26-jährige Nathan Law, hat Hongkong bereits sicherheitshalber verlassen. Andere kandidieren weiterhin für einen Sitz im Legislativrat, etwa Joshua Wong, der erstaunlicherweise als unabhängiger Kandidat antritt. Auch der in Peking verhasste Juraprofessor Benny Tai, der mit großem Erfolg für die Opposition die Vorwahlen zum Legislative Council - Hongkongs Parlament - mitorganisiert hat, wurde nicht verhaftet. Zumindest bisher. An den Vorwahlen nahmen am Wochenende rund 610.000 Menschen teil. Allerdings bezeichnete Pekings Verbindungsbüro das symbolische Protestvotum unter dem Motto "Power for Democracy" als "schwere Provokation" und möglichen Verstoß gegen Artikel 22. Da zeigt sich dann schon, in welche Richtung die Reise schnell gehen kann.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.

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