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Sierens China: Wahre Werte

Frank Sieren, Peking23. März 2016

Bundespräsident Joachim Gauck macht mit seiner Shanghaier Rede anlässlich seiner ersten Chinareise deutlich, welche Werte ihm wichtig sind. Dabei hat er allerdings einige Adressaten brüskiert, meint Frank Sieren.

Bundespräsident Gauck in China, Foto: AFP
Bild: J. Eisele/AFP/Getty Images

Was ist eine gute Rede? Eine gute Rede ist eine Rede, die den Gemütszustand des Redners wiedergibt, überzeugend davon erzählt, was ihm wichtig ist und was nicht. In dieser Hinsicht war der Vortrag von Bundespräsident Joachim Gauck an der Tongji Universität am Mittwoch eine gute Rede. Sie gilt als die richtungsweisende Rede seiner ersten Chinareise. Gauck ist überzeugt, dass die chinesische Gesellschaft vielfältiger geworden ist, und "diese Vielfalt eine wichtige Quelle für den Ideenreichtum und damit für den Erfolg Chinas ist". Die Lernfähigkeit von Gesellschaften ist ihm wichtig und die Rechtsstaatlichkeit. Das Recht müsse über der Macht stehen - auch der Macht der Kommunistischen Partei.

Selbst eine soziale Marktwirtschaft sei "ohne funktionierendes Rechtssystem schlicht undenkbar". Neben der Herrschaft des Rechts hält Gauck "unveräußerliche Menschenrechte, Gewaltenteilung, repräsentative Demokratie und Volkssouveränität" für "universelle Werte". Technische Innovationen seien ohne "soziale Innovation" nur die Hälfte wert. Ein Sozialstaat erzeuge erst dann wirtschaftliche Schubkraft, "wenn er sich mit Demokratie verbindet". Das alles ist Gauck wichtig. Und die meisten Deutschen werden ihm dabei zustimmen. Insofern ist es eine gute Rede.

Herausforderung: Schwächen aufdecken, ohne zu brüskieren

Aber eine Rede hat auch Adressaten. Und die Schwächen der Adressaten aufzudecken, sie zur Besserung zu animieren ohne sie brüskieren, ist hingegen eine viel schwierigere Aufgabe, als die eigene Haltung zu beschreiben. In dieser Hinsicht sind die Beziehungen von Ländern ähnlich wie die Beziehungen zu Menschen. Konstruktiv Kritik zu üben, ist schon schwierig für Eltern gegenüber ihren Kindern, oder Vorgesetzten gegenüber ihren Angestellten. Aber am schwierigsten, sich auf Augenhöhe zu begegnen, ist es gegenüber Freunden oder Ehepartnern. Eine gute Freundschaft wie die zwischen China und Deutschland verlange "Aufrichtigkeit und Offenheit" betont Gauck, um das gewachsene Vertrauen weiter zu festigen. Aber Aufrichtigkeit kann auch verletzen. Der Grat zwischen konstruktiver Kritik und destruktiven Vorwürfen ist schmal.

Und Gauck wäre nicht Gauck, wenn er nicht auch Sätze in seiner Rede hätte, die kippen können. Schon im zweiten Abschnitt steht so ein Satz, der von der Shanghaier Tongji-Universität als herablassende Kritik verstanden werden kann, und ist sicherlich auch so gemeint. "Eine Universität muss ein Ort freier Forschung und offener Debatten sein." Das ist ja selbstverständlich. Und nur, wenn es nicht selbstverständlich ist wie mancherorts in China, lohnt es überhaupt, dies zu erwähnen. Deshalb werden selbst manche Reformer an der Universität diesen Satz als Angriff auf die Spielräume verstehen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten mühsam geschaffen haben.

DW-Korrespondent Frank SierenBild: picture-alliance/dpa/M. Tirl

Der Wurm muss dem Fisch schmecken

Ein anderer Gauck-Satz ist ähnlich gelagert: "Solange sich Gesellschaften und Regierungen als lernfähige Systeme erweisen, lassen sich Fortschritte erzielen." Chinas Regierung ist eine der lernfähigsten überhaupt, wie man in den vergangenen dreißig Jahren miterleben konnte. Ob sie in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichermaßen vorankommt, darüber kann und muss man in der Tat diskutieren. Auch die folgende Bemerkung stimmt, kann aber als Vorwurf gewertet werden, denn so binär ist nicht einmal China: "Individuelle Freiheitsrechte können nicht dauerhaft durch materielle Güter oder den sozialen Status ersetzt werden." Selbstverständlich haben die Freiheitsrechte der meisten Chinesen dramatisch zugenommen, und gleichzeitig wurden die Rechte von einigen Menschenrechtsgruppen wieder stärker eingeschränkt.

Was Gauck ehrt ist, dass er die kritischen Themen offen angesprochen hat. Das ist bei Bundeskanzlerin Angela Merkel auch üblich. Bei den Briten und den Franzosen kaum noch. Gauck will, dass seine Adressaten zuhören, ja sogar nachdenklich werden. Auch die Menschen in China neigen jedoch dazu mehr zuzuhören, wenn sie sich verstanden fühlen. Der Wurm muss dem Fisch schmecken nicht dem Angler. Deshalb ist es einerseits klug zu betonen, dass einem Selbst auch nicht alles auf Anhieb gelungen ist. Die schwierige Lernkurve Deutschlands beschreibt Gauck ausführlich. Nicht minder wichtig ist anderseits jedoch: Anzuerkennen, was der Freund schon geleistet hat, bevor es darum geht, was man besser machen könnte.

Weniger Chinesen erreicht als erwünscht?

Das ist, wenn man überhaupt von Schwächen sprechen kann, das größte Manko der Shanghai-Rede von Joachim Gauck. Er bewundert das reiche kulturelle Erbe Chinas, aber hängt sogleich seine Kritik daran auf. Nach dem Motto: Dieses Erbe verpflichtet. Sein ausdrückliches Lob beschränkt sich auf den wirtschaftlichen Erfolg und die Bekämpfung der Armut. Dass es selbst bei der Rechtsstaatlichkeit, politischer Partizipation, bei Arbeitnehmerrechten und vor allem beim Sozialstaat große Fortschritte in China gegeben hat und wohl auch in Zukunft geben wird, kommt in seiner Rede viel zu kurz. Das ist schade. Denn damit hat er viel weniger Chinesen erreicht, als man ihm gewünscht hätte.

Unser Korrespondent Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.

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