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Politik

Gabriel: Vollblutpolitiker und Realist

24. Januar 2017

Auf 21 Prozent käme die SPD, wenn jetzt Bundestagswahl wäre. Gabriel konnte die Quote nicht steigern. Seine Konsequenz: er wird nicht Kanzlerkandidat. Wer ist Sigmar Gabriel?

Sigmar Gabriel SPD
Bild: Getty Images/S.Gallup

Es ist sicher nicht einfach, wenn man erkennen muss, dass die eigene Leistung nicht genügt. "Das, was ich bringen konnte, hat nicht gereicht", sagt Sigmar Gabriel dem Magazin "Stern" und begründet damit seine Entscheidung, bei der Bundestagswahl im September nicht als Kanzlerkandidat für die SPD ins Rennen zu gehen. Statt Gabriel soll Martin Schulz, der bisherige Präsident des Europaparlaments, in Zukunft die erste Geige in der Partei spielen. "Schulz steht für einen Neuanfang und darum geht es bei der Bundestagswahl", so der 57-jährige Gabriel, für den die Personalentscheidung weitreichende Folgen haben wird. Denn Schulz will und wird auch den SPD-Parteivorsitz übernehmen.

Martin Schulz rückt bei der SPD in den VordergrundBild: Reuters/F. Bensch

Es ist nicht das erste Mal, dass im Leben des Sigmar Gabriel nicht alles nach Plan verläuft. Schon seine Kindheit ist nicht einfach. Am 12. September 1959 kommt Gabriel in Goslar zur Welt. Die Eltern trennen sich, als ihr Sohn drei Jahre alt ist. Gegen seinen Willen muss der kleine Sigmar bei seinem Vater bleiben, einem gewalttätigen und unbelehrbaren Nationalsozialisten. Der erbittert geführte Rechtsstreit um das Sorgerecht zieht sich hin, bis der Junge zehn Jahre alt ist.

Gabriel verzichtet auf Kandidatur

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Sigmar sticht Reifen platt und stiehlt

Als er endlich zu seiner Mutter darf, ist der Junge verhaltensauffällig, stiehlt, soll auf eine Sonderschule gehen. "Ich habe es ihr nicht leicht gemacht, aber sie hat mir das Leben gerettet", sagt der Sohn später über seine Mutter, eine Krankenschwester. Von der Realschule wechselt Gabriel auf das Gymnasium, macht Abitur. In Göttingen studiert er Deutsch, Politik und Soziologie und wird Lehrer.

Politische Talente unter sich: Sigmar Gabriel und Gerhard SchröderBild: Getty Images/C. Koall

Zum Beruf und zur Berufung wird indes die Politik. Schon als 17-Jähriger ist Sigmar Gabriel in die "Sozialistische Jugend Deutschlands" eingetreten, 1977 in die SPD. Es folgen Posten und leitende Ämter in der Kommunalpolitik, ab 1990 in der niedersächsischen Landespolitik. Der damalige Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder erkennt das politische und rhetorische Talent Gabriels und fördert ihn. 1999 wird Sigmar Gabriel Ministerpräsident von Niedersachsen und mit 39 Jahren jüngster Regierungschef eines deutschen Bundeslandes.

Der SPD-Landesverband lässt ihn fallen - ja und?

Auf die steile Karriere folgt 2003 der politische Fall. Nach der verlorenen Landtagswahl ernennt ihn die SPD zum "Beauftragten für Popkultur und Popdiskurs". Bedeutungsloser kann man kaum werden. "Siggi Pop" wurde Gabriel damals selbst von den Genossen mit versteckter Häme genannt. Doch der Vollblutpolitiker gibt nicht auf. Einstecken und wegstecken, das kann er gut. Das hat er schließlich schon als Kind gelernt. Auch mangelt es ihm nicht an Selbstbewusstsein. "Lieber dick als doof", sagt er gerne, wenn jemand Anspielungen auf seine beachtliche Leibesfülle macht und setzt dabei sein allseits bekanntes, maliziöses Lächeln auf.

2002 als Ministerpräsident mit deutschen Musikern - ein Jahr später war Gabriel Popbeauftragter Bild: picture-alliance/dpa/W. Weihs

Gabriel richtet seinen Blick auf Berlin und die Bundespolitik. 2005 erkämpft er sich in seinem Wahlkreis ein Direktmandat und zieht in den Bundestag ein. Dort hat die SPD gerade das Kanzleramt verloren und muss sich als Juniorpartner in einer Großen Koalition unter Angela Merkel einfinden. Sigmar Gabriel mischt umgehend mit und wird Bundesumweltminister.

Lernfähig oder wankelmütig?

Der Sozialdemokrat, der sich als Ministerpräsident noch vehement gegen die Einführung des Dosenpfands gewehrt hatte, muss sich jetzt als Umweltpolitiker profilieren. Es gelingt ihm - vielleicht auch deswegen, weil er kein Ideologe ist, sondern Pragmatiker. Seine politischen Überzeugungen sind nur im sozialdemokratischen Grundsatz fest zementiert. Er steht dem wirtschaftsorientierten Flügel der SPD näher als dem linken. Darüberhinaus identifiziert sich Gabriel mit seinen jeweiligen Ämtern und Aufgaben, kann Rollen glaubhaft ausfüllen.

Als Bundeswirtschaftsminister kämpft er beispielsweise für den Freihandel, wird auch von der Wirtschaft für seine Politik gelobt. Gleichzeitig schafft er es aber auch, mit dem Widerstand in seiner Partei gegen die transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA umzugehen. "Nach meiner Einschätzung sind die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten de facto gescheitert, auch wenn das keiner so richtig zugibt", sagt er, noch während sich die Bundeskanzlerin demonstrativ mit US-Präsident Barack Obama für TTIP ausspricht.

In der Wirtschaft gut gelitten: Gabriel 2015 mit BDI-Präsident Grillo (rechts) und DIHK-Präsident Schweitzer Bild: picture-alliance/dpa/Kumm

Gabriel ist das egal. Er muss abwägen und in diesem Fall ist es für ihn persönlich wichtiger, die SPD hinter sich zu vereinen. Er hat eine feine Nase für politische Stimmungen und geht ihnen nach. Widersprüche müssen in Kauf genommen werden. Das lässt nicht nur Gegner an den Überzeugungen des SPD-Vorsitzenden zweifeln - und an seiner politischen Zuverlässigkeit. Was kann man noch "lernfähig" nennen, was ist schon "sprunghaft" oder "wankelmütig"?

Erst mit Merkel, dann gegen sie

Beispiel Flüchtlingspolitik. Im September 2015 wird die Willkommenskultur in Deutschland groß geschrieben. Der Vizekanzler trägt im Bundestag einen "Refugees Welcome"-Button am Revers. Als der Unmut in der Bevölkerung wächst, wendet sich das Blatt. Gabriel nimmt den Umschwung auf und stellt die "Wir schaffen das"-Politik der Bundeskanzlerin in Frage.

"Welche Voraussetzung braucht man, um das zu schaffen?", fragt er. Darüber sei mit der Union schon viel zu lange nur geredet worden. "Wir dürfen nicht diejenigen vergessen, die uns inzwischen sagen: Ihr seid ja super Typen, erst habt ihr Hunderte Milliarden für Banken, jetzt habt ihr Milliarden für Flüchtlinge, aber wenn ich nach 40 Jahren eine anständige Rente haben will, dann sagt ihr mir, dafür haben wir kein Geld."

September 2015: Mit Button auf der RegierungsbankBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Wenn er wütend wird, dann richtig

Sigmar Gabriel als Fürsprecher der "kleinen" Leute. Was nicht heißt, dass er sich auf die Seite derjenigen stellt, die rechtes Gedankengut verbreiten. "Das ist wirklich Pack und Mob (…) man muss sie einsperren", schimpfte er über rechte Hetzer. Nach den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht sprach er von "Arschlöchern". Pöbelnden rechten Demonstranten zeigte er Mitte letzten Jahres den Mittelfinger. Darf man das als SPD-Vorsitzender, Vizekanzler und Minister? Danach gefragt, ob er die beleidigende Geste bereue, sagt Gabriel: "Ich habe nur einen Fehler gemacht, ich habe nicht beide Hände benutzt."

Diplomatie war noch nie seine Stärke. Er haut gerne drauf. "Rampensau mit Bauchgefühl" wird er auch genannt. "Er kann begeistern, mitreißen, überzeugen - aber auch befremden, frustrieren, verstören", heißt es in einer kürzlich erschienenen Biografie über den SPD-Chef. In letzter Zeit hatte er sich besser im Griff. Trat staatsmännischer auf, wohl auch, um sich auf die Rolle des Kanzlerkandidaten vorzubereiten. Eine Außendarstellung, die ihm nun aber auch im Amt des Bundesaußenministers helfen könnte. Dort sind eher leise und harmonische Töne gefragt.

Wirtschaftsminister Gabriel im Herbst 2016 im IranBild: Copyright: picture-alliance/AP Photo/E. Noroozi

Abschied vom SPD-Vorsitz

Schwer wird für Sigmar Gabriel sicher der Verzicht auf den SPD-Vorsitz. Seit 2009 war er Parteichef und damit länger als alle anderen vor ihm. Bis auf Willy Brandt. Und die SPD? Wird sie ihn vermissen? "In seiner Partei wird er mehr gefürchtet als geachtet, geschweige denn geliebt", schreiben die Biografen. Dabei stand die SPD mit Gabriel nach außen so einig da, wie schon lange nicht mehr. Und dann hat es der Vizekanzler ja auch noch geschafft, mit Frank-Walter Steinmeier einen - wer hätte das gedacht - sozialdemokratischen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten durchzusetzen.

Mit seiner Entscheidung, in die zweite Reihe zurückzutreten, könnte Gabriel jedoch viel Boden gut machen. Seine Parteifreundin und Bundesumweltministerin Barbara Hendricks sagte, die SPD könne Gabriel dankbar sein. "Er hat die Entscheidung aus einer Position der Stärke heraus gefällt und damit wahre Größe gezeigt." 

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